Vorwort

Wenn du selbst kein Zeuge Jehovas bist und auch sonst nur wenige bis gar keine Berührungspunkte mit mir persönlich oder mit der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas hast, dann erwartet dich hier vielleicht nur wenig, das dich interessieren oder gar mitreißen wird. Vieles von dem, was ich niedergeschrieben habe, ist bereits öffentlich und kommt bei anderen religiösen Institutionen ebenfalls vor.

Ich schreibe hier über meine Zeit bei den Zeugen Jehovas, wie ich ins Zweifeln kam und welche Informationen letztendlich dazu geführt haben, dass ich den Schritt raus wagte. Ich musste raus, es gab keine andere Option. Du wirst erfahren, dass es nicht leicht ist, die Zeugen Jehovas zu verlassen, auch wenn die Organisation selbst den Austritt als eine formelle Angelegenheit beschreibt. Doch dabei vergessen sie meiner Meinung nach den Menschen selbst, wie er fühlt, was er sich aufgebaut hat und wie viel im Leben eines Menschen dabei zerstört werden kann.

Für wen schreibe ich hier? Ich glaube, dass ich in erster Linie für mich ganz persönlich geschrieben habe. Es ist eine Aufarbeitung der Dinge, die meine Familie und ich während und nach dem Ausstieg erlebten. Zum anderen schreibe ich für die Menschen, die uns kannten, die immer noch ein Teil der Organisation sind. Ich möchte diese Menschen, unabhängig von dem, was sie vielleicht per "Stille Post"-Prinzip erfahren haben, darüber informieren, warum wir als Familie ausgetreten sind. Außerdem möchte ich besonders unsere Freunde, die selbst Kinder haben, auf ein Problem hinweisen, das ihren Kindern zu einer Gefahr werden könnte. Besonders weil die Verantwortlichen, aus meiner Sicht, nicht genügend für Aufklärung sorgen.

Hinweise für Zeugen Jehovas

Da du dir vermutlich unsicher bist, ob du weiterlesen solltest, möchte ich dir kurz einige Hinweise geben, was dich erwarten wird und auf welche Quellen zurückgegriffen wurde, damit du, für dich ganz persönlich, entscheiden kannst, ob du dich mit den nachfolgenden Informationen beschäftigen möchtest.

Ich nutze keinerlei Quellen, Dokumente, Webseiten oder Angaben von "Abtrünnigen". Ich nutze dafür Quellen von öffentlichen Behörden, staatlichen Einrichtungen wie Gerichten oder Untersuchungskommissionen. Darüber hinaus zitiere ich aus den Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft. Alle weiteren Informationen, die ich verfasst habe, sind meine eigenen Erfahrungen und Gedanken, die ich nach bestem Wissen und Gewissen wiedergebe.

Viele Dinge, die ich hier niedergeschrieben habe, können dich verunsichern und durcheinander bringen. Ich informiere dich im Voraus darüber, da ich weiß, wie man sich als Zeuge Jehovas fühlt, wenn man auf die nachfolgenden Informationen stößt. Ich versuche hiermit, Rücksicht auf dich zu nehmen. Und wenn du dir unsicher bist weiterzulesen, dann steige an dieser Stelle aus.

Schnelldurchlauf

1994: Meine Mutter und ich auf dem Weg zu einem Kongress der Zeugen Jehovas. Meine Mutter ließ sich an diesem Tag taufen.

1985 wurde ich als einziges Kind meiner Eltern in Berlin geboren. Als ich 5 Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Mit meiner Mutter zog ich aus Berlin-Friedrichshain in den Süden Berlins, nach Lankwitz. Ich kann mich kaum an diese Zeit erinnern. Wir waren mit einem Mal in einer anderen Wohnung, einem anderen Umfeld. Es hat nicht lange gedauert, dann hat sich meine Mutter regelmäßig mit Zeugen Jehovas getroffen. Im April 1994 hat sie sich als eine Zeugin Jehovas taufen lassen. Mich hat sie, seit sie mit dieser Religionsgemeinschaft in Kontakt getreten ist, in diesem Glauben erzogen. 1996 hat meine Mutter einen Zeugen Jehovas geheiratet. Von da an waren wir zu dritt.

Als Zeuge Jehovas habe ich nicht nur an den Türen der Menschen geklingelt, sondern auch auf öffentlichen Plätzen mit sogenannten Trolleys gestanden.

Ich würde sagen, dass ich „fest in der Wahrheit“ stand, wie man das bei Zeugen Jehovas nennt. Ich war zwar als Kind und Jugendlicher nicht gerade einfach, aber ich habe fest an Jehova und Harmagedon (das kurz bevorstehende Ende der bösen „Welt“) geglaubt. Mit 16 Jahren ließ ich mich als ein Zeuge Jehovas taufen (2001). Einen Monat darauf habe ich das erste Mal den Hilfspionierdienst geleistet. Das tat ich öfter. Nach meiner Taufe verging nicht ein Monat, ohne dass ich an den Türen der Menschen klingelte – zumindest in der Zeit, in der ich ein aktiver Zeuge Jehovas war.

Zu zweit

Am 17. April 2004 lernte ich meine jetzige Ehefrau kennen. Sie war zu dieser Zeit keine Zeugin Jehovas. Die Wachtturm-Gesellschaft (die organisatorische Zentraleinrichtung der Zeugen Jehovas, nachfolgend WTG genannt) stellt es als „Ungehorsam gegenüber Gott“ dar, wenn man mit jemandem zusammen ist oder gar die Ehe mit einer Person erwägt, die kein Zeuge Jehovas ist – WTG. Ich verliebte mich aber. Das verursachte irgendwann Probleme. Denn wir lebten zusammen, mit allem, was dazugehört.

Ich ging kaum noch zu den Versammlungen (Gemeindetreffen). Nach kurzer Zeit riefen die Ältesten (Gemeindeaufseher) an, und ich „stellte mich“. Ein Rechtskomitee (hierbei handelt es sich um eine interne Gerichtsbarkeit, die von drei Ältesten der Gemeinde gebildet wird) machte mir klar, dass ich mich zwischen meiner Freundin und dem damit verbundenen Lebensstil oder der Organisation entscheiden müsse. Ich entschied mich für meine Freundin. Es folgte der Ausschluss aus der Gemeinschaft (Kontaktabbruch). Mein Glaube blieb mir aber erhalten (Juni 2004).

Im Laufe der Zeit kam meine Freundin mit den Publikationen der WTG in Berührung, die in meiner Wohnung herum lagen. Wir sprachen daraufhin sehr viel über meinen Glauben. Sie befand sich auf Grund persönlicher Umstände in einer schweren Phase ihres Lebens und schöpfte aus den Publikationen Kraft. Sie gaben ihr Hoffnung. Sie fing daher an, mit einer Zeugin Jehovas die Bibel zu studieren. Ich selbst hatte den Wunsch, wieder zur Organisation zurückzukommen, da ich meine Freunde sowie meine Familie vermisste und weiterhin von den Glaubenslehren der WTG überzeugt war. Vor allem aber hatte ich Angst davor, in Harmagedon umzukommen, da ich nicht zur Gemeinschaft dazugehörte.

Solange meine Frau und ich unverheiratet zusammen blieben, wäre eine Rückkehr ausgeschlossen. Daher haben wir im Juli 2005 geheiratet. Doch dies allein genügte nicht. Ich musste für einige Monate regelmäßig die Versammlung besuchen. Wir saßen dabei in den hinteren Reihen. Keiner durfte mit mir sprechen oder mich begrüßen. Für meine Frau war es nicht leicht. Sie fand dadurch kaum Anschluss zur Versammlung. Im Frühling 2006 wurde ich, nachdem ich meinen Aufnahmeantrag verfasst hatte, wieder als ein Zeuge Jehovas in der Organisation aufgenommen. Am selben Tag haben wir mit meinen „alten“ Freunden einen wunderbaren Abend verbracht. Meine Frau und ich haben es sehr genossen.

„Karriere“

TV-Bericht WDR: Wie sich die Zeugen Jehovas organisieren, Länge: 02:10 Min.

Von da an machten wir „Fortschritte“. Mit der Zeit habe ich immer mehr „Vorrechte“ in der Organisation erhalten. Meine Frau war rund drei Jahre lang als Allgemeiner Pionier tätig. Ich selbst wurde im Sommer 2010 zum Dienstamtgehilfen ernannt (eine Stufe vor dem Ältesten).

Zu diesem Zeitpunkt meldete sich unser erster Sohn an, der im April 2011 zur Welt kam. Wir erzogen ihn von Anfang an in unserem Glauben. Das ist einfach so. Man ist schließlich zu 100% überzeugt, dass dieser Glaube der richtige ist. Und das Richtige will man auch seinen Kindern weitergeben.

Es war eine schöne Zeit. Viele unserer Freunde haben ebenfalls Kinder bekommen, und wir waren froh, dass unser Sohn in der Versammlung später nicht alleine sein würde. Im November 2013 kam unser zweiter Sohn zur Welt.

Ich erinnere mich, dass von da an alles schwerer wurde. Mein Amt in der Versammlung und die damit verbundenen Aufgaben, der Predigtdienst (Missionstätigkeit), die wöchentlichen Besuche der Versammlung, die Familie, die Arbeit. Alles unter einen Hut zu bringen, war nicht einfach. Irgendwas schleifte immer. Ich muss zugeben, dass ich daran zum Teil auch selbst „Schuld“ war, da ich ein Mensch bin, der sehr neugierig ist und viel ausprobiert und dadurch auch verschiedene Hobbys hat.

Mit der Zeit kam es deswegen immer wieder zu Gesprächen mit den Ältesten. Dabei drehte es sich insbesondere darum, dass ich monatlich nicht die Anzahl an Stunden im Predigtdienst erreichte, die ein Dienstamtgehilfe aufbringen sollte. Die Gespräche halfen nichts. Daher schrieb ich Monat für Monat die Anzahl an Stunden auf, die nötig waren, um den Gesprächen aus dem Weg zu gehen.

Als auf einem Kongress einmal ein Kreisaufseher (hohes Tier) erzählte, dass er als Jugendlicher ebenfalls seinen Bericht fälschte, ging’s mir erstmal besser 🙂

Zwischenzeitlich wurde ich in unserer Versammlung zum Literaturdiener ernannt. Seine Aufgaben bestehen darin, Publikationen für eine Versammlung bei der zugehörigen Zweigstelle von Zeugen Jehovas zu bestellen und zu verwalten. 2015 erhielt ich außerdem das „Vorrecht“, einen öffentlichen Vortrag auszuarbeiten. Öffentliche Vorträge dauern in der Regel 30 Minuten und werden meist nur von Ältesten gehalten. Hat man einen Vortrag ausgearbeitet, kann man von verschiedenen Versammlungen aus der näheren Umgebung eingeladen werden, diesen zu halten. Bei der Ausarbeitung sollte man sich sehr eng an die Disposition sowie die vorgegebenen Quellen halten, die von der WTG zur Verfügung gestellt werden. Meinen Vortrag hielt ich insgesamt fünf Mal.

Meine Frau und ich auf der Leinwand beim Kongress im Oktober 2015.

Erste Zweifel

Jetzt muss ich nochmal in das Jahr 2008 zurückspringen. Dort kam ich im Internet zum ersten Mal mit kritischen Informationen zur WTG in Kontakt, die mich in meinem Glauben erschütterten. Normalerweise befasst sich ein Zeuge Jehovas nicht mit Informationen von „Abtrünnigen“. Die WTG sorgt mit ihren Publikationen dafür, dass sich ein Zeuge Jehovas mit der Zeit eine Art Firewall aneignet. Diese „Firewall“ dient dazu, sämtliche Kritik, sogar ohne sie zu lesen, als „von Satan dem Teufel kommend“ zu bezeichnen. Unter IT-Experten würde man sagen, dass ausschließlich der Port der WTG geöffnet ist. Alle weiteren Informationen, die von außen versuchen einzudringen, werden blockiert.

Mich haben die Informationen, die ich las, kurzzeitig aus der Bahn geworfen. Doch Gespräche mit meiner Mutter, viel Zeit im Predigtdienst, das viele Lesen der Publikationen der WTG und die regelmäßigen Besuche der Versammlung halfen mir zunächst, darüber hinwegzukommen und die Dinge zu verdrängen. Aber sie kamen immer wieder hoch und ließen mich nicht los.

Unsere Söhne wuchsen heran, und damit kamen Gefühle und Überlegungen auf, die ich vorher nicht kannte. Der Umstand, dass ich Vater wurde, veränderte komplett meinen Blickwinkel. Ich dachte beispielsweise darüber nach, was wäre, wenn meine Kinder Blut benötigen würden.

In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Vorfällen, bei denen Kinder von Zeugen Jehovas aufgrund fehlender Bluttransfusionen ihr Leben verloren.

Erwachet! vom 22. Mai 1994: „Jugendliche, die Gott den Vorrang geben“. Auf dem Cover sind 26 Kinder abgebildet. Bekannt ist, dass die drei Kinder im Vordergrund ihr Leben verloren haben, da sie eine Bluttransfusion verweigerten. In der Zeitschrift wird jeweils ihre Geschichte erzählt. Ob dies bei den anderen Kindern, die im Hintergrund abgebildet sind, ebenso der Fall war, ist nicht bekannt.

Es gibt zwar mittlerweile Blutersatzstoffe sowie Methoden, die selbst komplizierte Operationen ohne Fremdblut ermöglichen. Allerdings war ich mir – und meine Frau offenbarte es mir später ebenfalls – zu 100% sicher, dass ich im Notfall niemals meinen Kindern eine Bluttransfusion vorenthalten würde, wenn ihr Leben davon abhinge. Ich dachte mir: „Dann bin ich halt der Sünder, dann werde ich Harmagedon nicht überleben. Mein Kind kann nichts für die Entscheidung seiner Eltern“ Ich dachte mir, wenn nur zu 0,00001% die Möglichkeit bestand, dass dieser Glaube nicht der Richtige ist, dann reicht das, um meine Kinder am Leben zu lassen.

Ich machte mir auch Gedanken darüber, dass es vorkommen könnte, dass einer meiner Söhne später aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ausgeschlossen wird oder gar eigenständig die Organisation verlässt, nachdem er sich hat taufen lassen. In diesem Fall sollten Eltern den Kontakt zu ihrem Kind abbrechen, wenn es nicht mehr zu Hause wohnt.

Vielen, die Zeugen Jehovas nur von der Tür her kennen, ist nicht bewusst, welche Regeln es innerhalb der Organisation gibt, wenn Menschen diese verlassen möchten. Ich werde es dir gern erklären.

Es gibt zwei Arten, die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zu verlassen:

  1. Man begeht eine Sünde, nach der Interpretation der Zeugen Jehovas, und bereut diese nicht (Reueloser Sünder).
  2. Man verlässt, wie meine Frau und ich es taten, freiwillig die Organisation (Abtrünniger).

In beiden Fällen brechen Zeugen Jehovas in der Regel jeglichen Kontakt zu diesen Menschen ab. Das geht so weit, dass diese nicht einmal mehr gegrüßt werden. Das macht weder Halt vor dem besten Freund, der besten Freundin, noch vor den eigenen Kindern oder Eltern. Es sei denn, die Kinder sind minderjährig und wohnen noch zu Hause.

Was aber, wenn wir mit jemand, der ausgeschlossen werden musste, verwandt oder eng befreundet sind? Dann steht jetzt unsere Treue auf dem Prüfstand, und zwar nicht gegenüber dieser Person, sondern gegenüber unserem Gott. Jehova schaut nun darauf, ob wir uns an sein Gebot halten, keinen Kontakt mehr mit jemandem zu haben, der ausgeschlossen ist.
Wachtturm, 15. April 2012, S. 12

Wie das in der Realität aussehen kann, zeigt ein Video, herausgegeben von Zeugen Jehovas – Video. In diesem Video geht es um eine junge Frau, die nicht länger nach den Vorgaben der WTG leben möchte. Sie wird aus der Versammlung ausgeschlossen, und ihr Vater macht sie darauf aufmerksam, dass es besser wäre, wenn sie auszieht, da sie kein guter Umgang mehr für ihre leiblichen Geschwister ist. Als die Frau ihre Eltern nach einiger Zeit anruft, um ihre Stimmen zu hören, werden sie in dem Video als „standhaft“ dargestellt, da sie nicht ans Telefon gehen.

Zeugen Jehovas bezeichnen diese Kontaktsperre als „Liebevolle Vorkehrung“WTG. Dadurch soll erreicht werden, dass der „Sünder“ oder „Abtrünnige“ zur Besinnung und somit zurück in die Organisation kommt. Dies funktioniert jedoch nicht von heute auf morgen. Hierbei muss der Ehemalige einige Zeit regelmäßig in der Versammlung erscheinen. Dabei wird man von keinem der Anwesenden begrüßt oder sonst wie beachtet.


Ich persönlich hätte den Kontakt zu meinen Kindern nicht einfach abbrechen können, auch wenn sie nicht mehr zu Hause gewohnt hätten. Es sind meine Kinder! Sie nicht zu sehen, zu wissen, wie es ihnen geht, wäre, wie wenn ich die Luft anhielte. Das ginge nicht lange gut.

Auch wenn diese Fälle vielleicht nie eingetroffen wären, in meinem Herzen konnte ich den Anforderungen der WTG nicht nachkommen, sie nicht akzeptieren. Und ich könnte so auch meinen Kindern diese Dinge nicht vermitteln.

Mit diesen Gedanken musste ich sehr lange kämpfen. Mit meiner Frau sprach ich zunächst nicht darüber. Auch sie hatte diese Überlegungen. Wir hatten eigentlich schon immer ein gutes Verhältnis und konnten offen miteinander reden. Wir waren aber nicht in der Lage, über die tiefsten Dinge – die Zweifel – mit unserem Ehepartner zu sprechen. Wie sich später herausstellte, hatten wir ebenfalls große Sorge vor dem Moment, wenn die Schulzeit beginnt. Ich selbst kannte den Spießrutenlauf, den Kinder von Zeugen Jehovas in ihrem Erwachsenwerden mitunter durchmachen, nur zu gut.

Und dann kam der Tag, an dem sich meine „Firewall“ abgeschaltet hat. Es klingt für dich wahrscheinlich harmlos. Aber dieser Tag hat erst alles ins Rollen gebracht. Eine Zeugin hat mich 2016 in eine Facebook-Gruppe von Zeugen Jehovas eingeladen. Dort gab es einen Kommentar, bei dem sich eine „Glaubensschwester“ Sorgen machte, ob ihre Katzen (oder Hunde?) Harmagedon überleben würden. Daraufhin meldeten sich viele besorgte Tierbesitzer. Ich dachte mir, „was für ein Quatsch“. Aber ok, sie hatten eine enge Bindung zu ihren Tieren. Sie machten sich Mut durch die Geschichte über die Arche Noah: „Gott hat die Tiere damals gerettet, warum sollte er bei Harmagedon nicht auch dafür sorgen, dass unsere Haustiere überleben“. Nach einigem „Schöngerede“ folgte ein Kommentar einer „Schwester“:

„Wie viele Kinder nahm Gott mit in die Arche?“

Uff! Dieser eine einfache Gedanke ließ mich nicht mehr los. Ich las mir den Bericht über Noah durch. Mehrmals.

17 Und ich, siehe, ich bringe die Sintflut der Wasser über die Erde, um alles Fleisch, in dem die Lebenskraft wirksam ist, unter den Himmeln zu verderben. Alles, was sich auf der Erde befindet, wird verscheiden. Und ich will meinen Bund mit dir errichten; und du sollst in die Arche hineingehen, du und deine Söhne und deine Frau und die Frauen deiner Söhne mit dir.
1. Mose 6:17

Diese Aussage war mit dem Auftrag verknüpft, den Noah von Gott erhalten haben soll, bevor er mit dem Bau der Arche begann. Somit stand bereits viele Jahre vor der Sintflut fest, dass nur Noah, seine Frau und seine drei Söhne sowie deren Frauen das Ende der damaligen Menschheit überleben würden.

Während Noah, gemäß dem Bibelbericht, die Arche baute, sind in der Zwischenzeit Kinder geboren worden, die noch gar nicht am Leben waren, als Gott die Neigung der Menschen verurteilte.

Rückblickend ließ ich lange Zeit den Gedanken nicht an mich ran, dass es damals auch Kinder gegeben haben muss. Eigentlich ein recht einfacher und naheliegender Gedanke. Doch unser Gehirn, zumindest meins, scheint hier einfach die Grausamkeit, die dies zur Folge haben musste, auszublenden.

Dann lief der Countdown. Noah hat in einen Kasten mit den ungefähren Maßen von 133 Meter x 22 Meter x 13 Meter „von jedem lebenden Geschöpf einer jeden Art Fleisch […] je zwei in die Arche“ gebracht – WTG.

Ich stelle mir hier in Gedanken meine zwei Söhne vor, die zu dem Zeitpunkt, wenn Noah die Tiere in die Arche führt, 3 und 5 Jahre alt sind. Ihre Eltern glauben nicht an die Warnungen Noahs. Meinen Kindern ist es egal, ob Mama und Papa über Noah lachen. Sie verstehen die Zusammenhänge noch nicht. Meine Söhne finden es dafür aber sehr spannend, dass von überall Tiere herkommen, die sie noch nie gesehen haben, und spielen mit ihnen, streicheln sie, lachen und haben einfach nur Spaß. Mit einem Mal fängt es an zu regnen. Meine Jungs freuen sich zunächst über die Pfützen, springen rein und machen sich nass. Sie lachen und sind glücklich. Doch dann steigt das Wasser immer höher, bis zum Hals. Sie schreien, sie verstehen es nicht und rufen nach Mama und Papa. Sie können nicht schwimmen und halten sich an den Händen. Plötzlich verlieren sie den Boden unter ihren Füßen. Sie wollen Luft schnappen, und stattdessen dringt Wasser in ihre Lungen.

Bild aus Mein Buch mit biblischen Geschichten. Herausgegeben von Zeugen Jehovas (speziell für Kinder) – WTG.

Das ließ mich nicht mehr los. Viele Zeugen Jehovas reden sich das schön.„Jehova hat ins Herz geschaut. Er sah, dass sie (die Kinder) schlecht waren in ihrem Herzen und später ebenfalls schlechte Menschen werden würden.“ Oder man argumentiert damit, dass die Eltern verantwortlich sind für ihre Kinder. Man muss es sich einfach zurecht biegen. Nur so ist es wohl erträglich. Eine Auferstehung? Negativ!

Wer keine Auferstehung verdient, kommt in die „Gehenna“ oder den „Feuersee“ (Matthäus 5:22; Markus 9:47, 48; Offenbarung 20:14). Dazu gehören die ersten Menschen, Adam und Eva, der Verräter Judas Iskariot und Personen, die durch ein göttliches Strafgericht umgekommen sind, wie die Zeitgenossen Noahs oder die Bewohner von Sodom und Gomorra.
Wachtturm 15. Juli 2005, Seite 31

Über die Geschichte zu Sodom und Gomorra dachte ich ebenfalls nach. Abraham hat mit Gott gehadert. Er wollte nicht, dass Gott die ganze Stadt vernichtet.

23 Dann trat Abraham näher und begann zu sagen: „Wirst du wirklich die Gerechten mit den Bösen wegraffen? 24 Angenommen, es sind fünfzig Gerechte inmitten der Stadt. Wirst du sie denn wegraffen und dem Ort nicht verzeihen um der fünfzig Gerechten willen, die darin sind?
1. Mose 18:23-24

Dann machte Gott Abraham ein Angebot:

Da sprach Jehova: „Wenn ich in Sọdom, inmitten der Stadt, fünfzig Gerechte finden werde, will ich ihretwegen dem ganzen Ort verzeihen.
1. Mose 18:26

Sie verhandelten dann noch so lange, bis Abraham nicht einmal mehr zehn Menschen einfielen, die es Wert waren, gerettet zu werden. Mir wären ein paar eingefallen: Babys, Kleinkinder und Kinder. Schade!


Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es sich hierbei ausschließlich um meine Gedanken zur Bibel handelt. Dinge, die ich nicht nachvollziehen konnte. Die sich andere jedoch erklären können.

Bis hierhin hätte ich es vielleicht ertragen. Hätte weiterhin irgendwie meine Kinder bei Zeugen Jehovas erzogen. Wäre weiterhin zur Versammlung gegangen und hätte meine Überlegungen für mich behalten. Es gibt viele Zeugen Jehovas, die gewisse Dinge nicht verstehen und dann darauf vertrauen, dass Gott es besser weiß, dass wir einfach, weil wir begrenzt im Kopf sind, seine Gedanken nicht verstehen würden, auch wenn wir „in seinem Bilde erschaffen“ worden sind und genauso fühlen wie er.

Mit der Zeit (Anfang 2017) habe ich mich, nach vielen inneren Kämpfen, meiner Frau geöffnet. Sie hatte bemerkt, dass ich nachdenklich und unglücklich wirkte. Sie war sehr hartnäckig und ließ nicht locker, bis ich ihr dann alles erzählte. Sie war zunächst geschockt und sehr abweisend. Sie wollte das nicht wahrhaben, weil sie genau wusste, welche Konsequenzen diese Überlegungen zur Folge haben könnten. Deshalb hatte ich auch alles so lange in mich reingefressen.

Es dauerte zwei bis drei Tage, bis wir offen über alles reden konnten, frei von dem Zwang, unseren Glauben nicht zu hinterfragen. Wir machten uns weiter auf die Suche und stießen auf Dinge, die schockierten. Dinge, die uns dazu brachten, dass wir uns einfach nur schlecht vorkamen, jemals Teil dieser Organisation gewesen zu sein. Die uns keine andere Wahl ließen, als unsere Kinder dort rauszuholen.

Die folgenden Informationen kann jeder Zeuge Jehovas bei staatlichen Organisationen einsehen. Aber ich meine, dass kaum ein Zeuge Jehovas mit diesen Fakten vertraut ist.

Sexueller Kindesmissbrauch

Ja, sexueller Kindesmissbrauch kommt in unserer Welt vor. Es ist schrecklich, und man möchte nicht darüber nachdenken, was Kinder, die Opfer wurden, durchlebt haben und durchleben.

Ja, sexueller Kindesmissbrauch kommt auch bei Zeugen Jehovas vor. „Das sind die ’schwarzen Schafe‘, die gibt es leider überall“, so würde vermutlich ein Zeuge Jehovas antworten. So habe ich geantwortet. Aber da kannte ich nicht alle Fakten.

Hinweis für Nicht-Zeugen-Jehovas:

Es folgt nun eine kurze Erklärung, die darauf eingehen wird, dass man den nachfolgenden Quellen vertrauen kann. Wenn in Zeitungen, im Fernsehen oder auf Webseiten Zeugen Jehovas kritisiert werden, dann bezeichnen sie dies mitunter als „von Satan dem Teufel kommend“. Behaupten es sei Propaganda, die einzig und allein darauf abziele, „Gottes Volk“ zu diskreditieren. Oder es handelt sich, aus Sicht der WTG, um „abtrünniges Gedankengut“. Gedanken von ehemaligen Zeugen Jehovas, die absichtlich falsche Dinge ins Internet stellen – WTG.

Mit dem Internet bin ich ganz gut vertraut. Das ist mein Job. Ich weiß, wie ich das Netz und Google als Recherche nutzen kann. Ich weiß, welchen Seiten ich vertrauen kann und welchen nicht unbedingt.

Es gibt sogenannte Gesponserte Top-Level-Domains (sTLD). Eine dieser Top-Level-Domains ist die .gov. Beispielsweise für das Weiße Haus: https://www.whitehouse.gov.

Gemäß Wikipedia ist eine .gov für folgende Zwecke bestimmt:

Die Verwendung von .gov ist ausschließlich Regierungsbehörden der Vereinigten Staaten vorbehalten und wird durch die General Services Administration mit Sitz in Fairfax (Virginia) überwacht.
https://de.wikipedia.org/wiki/.gov

Einige Länder besitzen ebenfalls eine .gov mit einem Länderzusatz. Beispielsweise für Australien: .gov.au.

[…] .gov.au für die australische Regierung.
https://de.wikipedia.org/wiki/.au

Ein Zeuge Jehovas würde in diesem Fall von den „Obrigkeitlichen Gewalten“ sprechen, die, gemäß der Bibel, von Gott angeordnet sind und denen ein Zeuge Jehovas Untertan sein sollte – WTG.

Nun gut. Kennst du die Royal Commission into Institutional Responses to Child Sexual Abuse? Nein? Macht nix, ich kannte sie auch nicht.

The Royal Commission into Institutional Responses to Child Sexual Abuse is a royal commission established in 2013 by the Australian government pursuant to the Royal Commissions Act 1902 to inquire into and report upon responses by institutions to instances and allegations of child sexual abuse in Australia.
https://en.wikipedia.org/wiki/Royal_Commission_into_Institutional_Responses_to_Child_Sexual_Abuse

Einfach ausgedrückt: Diese Kommission wurde von der australischen Regierung im Jahr 2013 eingesetzt, um Fälle und Vorwürfe von sexuellem Kindesmissbrauch in Institutionen zu untersuchen und zu berichten, wie Kindesmissbrauch innerhalb der Institutionen behandelt wird. Der Abschlussbericht der Kommission erfolgte am 14. Dezember 2017.

Auch Zeugen Jehovas wurden untersucht.

Wenn du ein Zeuge Jehovas bist, magst du vielleicht denken, „ich weiß, worauf das jetzt hinausläuft; es gab sehr viele Vorfälle von Kindesmissbrauch, die nun aufgedeckt wurden“. Nein, darum wird es nicht gehen. Das ist nicht der Grund, warum meine Frau und ich uns von dieser Organisation getrennt haben.

Es geht um etwas anderes.

Untersuchung durch die Royal Commission

Richter Peter McClellan AM und Richterin Jennifer Coate
Bild: https://www.childabuseroyalcommission.gov.au/media-centre/images

Im bereits erwähnten Wikpedia-Artikel über die Royal Commission findest du den Link zur Internetseite: https://www.childabuseroyalcommission.gov.au.

Unter Public Hearings > Case studies findest du alle bisher durchgeführten Anhörungen, die im September 2013 begannen. Die Case studies 29 sowie 54 widmen sich den Zeugen Jehovas. Ich würde dich gerne zur ersten Studie mitnehmen.

Zu Beginn heißt es auf der Webseite:

The Royal Commission held a public hearing in Sydney from Monday 27 July and recommenced Friday 14 August 2015. The public hearing inquired into the Jehovah’s Witnesses and Watchtower Bible and Tract Society of Australia Ltd.
https://www.childabuseroyalcommission.gov.au/case-study/636f01a5-50db-4b59-a35e-a24ae07fb0ad/case-study-29,-july-2015,-sydney.aspxe

Wie du ebenfalls unter der Überschrift Transcripts erkennen kannst, fanden die öffentlichen Anhörungen vom 27. Juli bis zum 14. August 2015 statt, bei denen unterschiedliche Zeugen (allg. Begriff) ihre Aussagen machten. Die Zeugenliste kann ebenfalls auf der Webseite der Case study 29 eingesehen werden.

Am letzten Tag der Anhörungen wurde Geoffrey W. Jackson angehört (14. August 2015). Geoffrey W. Jackson ist aktuell Mitglied der „Leitenden Körperschaft“ der Zeugen Jehovas.

Die Anhörung begann um 10 Uhr vor dem Richter Peter McClellan sowie Commissioner Professor Helen Milroy. Der Anklagevertreter, der die Anhörung vornahm, war Angus Stewart SC.

Anklagevertreter Angus Stewart SC
Bild: https://www.childabuseroyalcommission.gov.au/media-centre/images

Das Transcript (Wort für Wort Übertragung) kannst du auf der Webseite herunterladen: Transcript (Day 155): 14 August. Die Anhörung war öffentlich und wurde auch auf Video aufgezeichnet.

Bei der Anhörung wurden zur Beweisführung unter anderem die Neue Welt Übersetzung der Heiligen Schrift, die Anleitung für Zweigstellen (Branch Organisation January 2015) sowie die Anleitung für Älteste einer Versammlung (Hütet die Herde Gottes 2010) verwendet.

Zu Beginn der Anhörung überprüfte Anklagevertreter A. Stewart die personenbezogenen Daten von Geoffrey Jackson, seinen Werdegang bei den Zeugen Jehovas, seine Funktion innerhalb der WTG sowie die Aufgaben, die die „Leitende Körperschaft“ inne hat.

Anschließend wurde zunächst das Thema Die Rolle der Frau innerhalb der Organisation behandelt. Es wurde auf den Konflikt beziehungsweise die Gefühle einer Frau eingegangen, die von einem Zeugen Jehovas vergewaltigt wurde. In einem solchen Fall müsste sich die Frau zunächst einem Ältesten aus der Versammlung anvertrauen. Im Anschluss würden zwei Älteste (Männer) den Fall näher untersuchen und gegebenenfalls ein Rechtskomitee einberufen. Die Frau müsste vor den Männern die Einzelheiten, die zur Tat führten, offen legen und unter Umständen auch die Einzelheiten der Tat selbst beschreiben. Zusätzlich könnte sie dabei mit ihrem Peiniger konfrontiert werden.

Der Richter fragte daraufhin Geoffrey Jackson, ob er nachempfinden könne, wie sich wohl eine Frau fühlen mag, die in solch eine Lage gebracht wird (Seite 27, ab Zeile 46). Jackson versuchte in mehreren Anläufen einer direkten Antwort auszuweichen. Zwischenzeitlich machte ihn der Richter darauf aufmerksam, dass er immer nur aus der Perspektive des Täters argumentieren würde, nicht der des Opfers. Daraufhin wiederholte Richter McClellan seine Frage, ob Jackson bewusst wäre, wie schwer es einer Frau fallen mag, sich vor Männern zu äußern, um über die Tat zu sprechen. Geoffrey Jackson wies darauf hin, dass er gar keine Frau ist und nicht in ihrem Namen sprechen möchte („Obviously I’m not a woman …“)?!

Das wirkt auf mich sehr verstörend. Jeder vernunftbegabte und ehrbare Mann kann sich zumindest annähernd vorstellen, wie furchtbar es für eine Frau sein muss, solch einer Befragung ausgeliefert zu sein.


Im Anschluss machte Anklagevertreter Stewart Geoffrey Jackson darauf aufmerksam, dass in den letzten Wochen Informationen aufgetaucht sind, die aufzeigen, dass es eine gängige Praxis bei Zeugen Jehovas gibt, die besagt, dass sexueller Kindesmissbrauch nicht den Behörden gemeldet werden würde, ausgenommen bei Bestehen einer entsprechenden rechtlichen Verpflichtung (Seite 36, ab Zeile 46).

Anklagevertreter A. Stewart fragte ganz konkret (Seite 37, ab Zeile 11):

Angus Stewart

Gibt es eine biblische Grundlage dafür, dass Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern nicht den Behörden gemeldet werden sollten, sofern dies gesetzlich nicht vorgeschrieben ist?

Geoffrey Jackson antwortete mit Sprüche 25:8-10:

8 Geh nicht hinaus, um übereilt einen Rechtsfall zu führen, damit es nicht fraglich wird, was du auf seinem Höhepunkt tun wirst,
wenn dein Mitmensch dich dann demütigt. 9 Führe deine eigene Rechtssache mit deinem Mitmenschen, und offenbare nicht das vertrauliche Gespräch eines anderen […].

Sprüche 25:8-9

Anklagevertreter Stewart führte daraufhin ein Beispiel an, bei dem ein Kind den Ältesten mitteilt, dass es vom eigenen Vater sexuell missbraucht worden ist (Seite 38, Zeile 30).

Angus Stewart

Wenn sich nun herausstellt, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat, würden Sie meinen, dass die anderen Kinder in der Familie einem Risiko ausgesetzt sind?

Geoffrey Jackson

Das ist korrekt!

Angus Stewart

Und wenn man nun nicht an die Behörden berichtet, ist es dann nicht so, dass Sie die Vertraulichkeit desjenigen, der berichtet hat, als wichtiger ansehen, als diejenigen zu schützen, die noch gefährdet sind?

Geoffrey Jackson war der Meinung, dass es in diesem Fall das Beste wäre, wenn die Ältesten dem Erziehungsberechtigten des Kindes empfehlen würden, eine Meldung bei den Behörden zu machen. Diese Anweisung findet man allerdings vergeblich in den offiziellen Anleitungen für Älteste.

Daraufhin fragte Anklagevertreter Stewart, ob es eine Möglichkeit gibt, in den Publikationen von Zeugen Jehovas eine Regel einzuführen, die besagt, dass in Fällen, bei denen Kinder der Gefahr des sexuellen Missbrauchs ausgesetzt sind, eine Meldung an die Behörden erfolgen muss (Seite 39, ab Zeile 6).

Geoffrey Jackson

Die Möglichkeit besteht, dass wir das prüfen. […] Aber der Punkt ist der, den ich versuche Ihnen zu erklären Mr Stewart, es gibt andere Bibelstellen, die das vielleicht etwas kompliziert machen könnten. Und es wäre sicherlich viel einfacher, wenn wir es vorgeschrieben bekommen.

An dieser Stelle bin ich ins Grübeln gekommen. Zeugen Jehovas vertreten die Ansicht, dass sie den Gesetzen des Staates nur so lange gehorchen, wie aus biblischer Sicht nichts dagegen spricht.

Genau wie die frühchristlichen Nachfolger Jesu ordnen sich Jehovas Zeugen bedingt den regierenden ‚obrigkeitlichen Gewalten‘ unter (Römer 13:1-7). Kommt es zu einem Konflikt zwischen einer Forderung von Menschen und dem Willen Gottes, nehmen sie folgenden Standpunkt ein: ‚Wir müssen Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen‘.
Wachtturm, 15. Juli 2002, S. 23-24

Beispielsweise wurden Zeugen Jehovas in der DDR eingesperrt, weil sie den Wehrdienst verweigert haben, da dies mit den Gesetzen der Bibel nicht übereinstimme. Und nun bittet Geoffrey Jackson darum, dass doch von staatlicher Seite aus dafür gesorgt werde, dass Zeugen Jehovas gesetzlich vorgeschrieben bekommen, Kindesmissbrauch den Behörden zu melden, um damit dem Grundsatz der Bibel nicht mehr folgen zu müssen. Geoffrey Jackson erkennt – aus meiner Sicht – hier die Autorität des Staates höher an als die der Bibel.

Bitte verstehe mich nicht falsch, ich bin zu 100% dafür, dass Meldungen an die Behörden gemacht werden. Doch die Aussage von Jackson wirkt auf mich, als würde die WTG ihren Kurs nach außen hin anders darstellen, als sie ihn intern fährt, nur um ihr Image zu wahren.

Anklagevertreter A. Stewart kommt nun zum interessantesten Teil:

Die Zwei-Zeugen-Regel

Jeder Zeuge Jehovas kennt sie: die Zwei-Zeugen-Regel. Angus Stewart wird sie gleich selbst erläutern. Wir wollen auf Seite 39, ab Zeile 24 in die Anhörung mit einsteigen:

Angus Stewart

Nun zu einem anderen Aspekt, mit dem wir uns beschäftigt haben, nämlich die Frage der Zwei-Zeugen-Regel. Ihnen wird bekannt sein, dass, wenn es kein Geständnis gibt, dann zwei Zeugen des ernsthaften Fehlverhaltens benötigt werden, damit genügend Beweise vorliegen, um ein Rechtskomitee einzuberufen. Gibt es dafür eine biblische Grundlage?

Geoffrey Jackson

Absolut. Wenn ich Sie zum Buch Matthäus mitnehmen darf, Kapitel 18, das ist auf Seite 1330, hier stehen die Worte unseres Herrn – Vers 16 – die Worte unseres Herrn Jesus Christus. Er lautet im Sinne eines rechtlichen Rahmens:

‚Wenn er aber nicht hört, nimm noch einen oder zwei mit dir, damit jede Sache aus dem Mund von zwei oder drei Zeugen festgestellt werde […]‘

Angus Stewart

Sie haben sich auf Matthäus 18:16 bezogen. Wenn ich das richtig verstehe – sonst korrigieren Sie mich bitte – , ist das wiederum eine Bezugnahme auf 5. Mose 19:15. Mit anderen Worten, was Jesus hier machte, war ein Rückbezug auf den Aspekt des Mosaischen Gesetzes, der sich mit dem Beweis [einer Missetat] befasst.

Geoffrey Jackson

Er zitierte aus dem Mosaischen Gesetz, wie er es oft tat, aber er gab ihm eine christliche Anwendung.

Angus Stewart

Aber das ist ein Element aus dem Mosaischen Gesetz, wie es in 5. Mose 19:15 steht; ist das richtig?

Geoffrey Jackson

Richtig, ein Element, das sowohl im Alten wie im Neuen Testament steht.

Angus Stewart

Was mich interessiert, und vielleicht können Sie mir dabei helfen, ist, warum man das auf einen Fall von sexuellem Missbrauch anwendet, wenn das, worum es in der Referenz von Matthäus geht, offensichtlich nicht eine Frage von sexuellem Missbrauch ist?

Geoffrey W. Jackson führt 2. Korinther 13:1 und 1. Timotheus 5:19 an und erklärt, dass die Beweisregeln immer gleich bleiben würden, um die geistige Reinheit der Versammlung zu bewahren.

Angus Stewart

Mr Jackson, genau darauf will ich hinaus. Sie werden 5. Mose 22:23-27 kennen – und vielleicht können wir das aufschlagen? Das ist auf Seite 304 und lautet:

‚Wenn jedoch der Mann das Mädchen, das verlobt war, auf dem Feld gefunden hat, und der Mann hat sie gepackt und hat bei ihr gelegen, so soll der Mann, der bei ihr gelegen hat, allein sterben, und dem Mädchen sollst du nichts tun. Das Mädchen hat keine Sünde, die den Tod verdient, denn wie wenn sich ein Mann gegen seinen Mitmenschen erhebt und ihn, ja eine Seele, tatsächlich ermordet, so ist es in diesem Fall. Denn auf dem Feld hat er sie gefunden. Das Mädchen, das verlobt war, schrie, aber da war niemand, der ihr zu Hilfe kam.‘ (Verse 25-27)

Der Punkt bei dem letzten Beispiel ist, dass es keinen zweiten Zeugen gibt, weil die Frau sich auf dem Feld befindet; sie schrie, aber da war niemand, um ihr zu helfen. Sind Sie damit einverstanden?

Geoffrey Jackson

Darf ich erklären, Mr Stewart, dass – sehen Sie, ich denke, dass schon einige Zeugen Jehovas unter Eid bezeugt haben, dass es bei dem Zwei-Zeugen-Erfordernis auf die Umstände ankommt. Ich denke, es wurde ein Beispiel gegeben …

Angus Stewart

Ich komme noch darauf, Mr Jackson. Wir kommen schneller und leichter voran, wenn wir uns immer nur um jeweils einen Schritt kümmern. Der jetzige Schritt ist: Sind Sie einverstanden, dass in diesem Beispiel ein Fall beschrieben ist, wo außer der Frau selbst kein weiterer Zeuge anwesend war?

Geoffrey Jackson

Da war kein anderer Zeuge außer der Frau selbst, aber dazu kamen die Umstände.

Angus Stewart

Ja. Nun, die Umstände waren, dass sie auf dem Feld vergewaltigt wurde?

Geoffrey Jackson

Mmmh-hmmm. Ja, das waren die Umstände.

Angus Stewart

Obwohl es nur einen Zeugen gab, war es trotzdem ausreichend für den Beschluss, den Mann zu Tode zu steinigen.

Geoffrey Jackson

Mmmh-hmm. Ja.

Angus Stewart

Und trifft es nicht zu, dass Jesus, wäre er über einen Fall von sexuellem Missbrauch befragt worden, sich auf diesen Teil von 5. Mose bezogen haben würde und gesagt hätte, man benötige keine zwei Zeugen?

Geoffrey Jackson

Ich würde Jesus das ganz bestimmt gern fragen, ich kann es im Moment nicht, ich hoffe aber in Zukunft. Aber das ist eine hypothetische Frage, wenn wir die Antwort wüssten, könnten wir das bestätigen, was Sie sagten.

Wenn du kein Zeuge Jehovas bist, wird dir das vielleicht etwas merkwürdig vorkommen. Daher werde ich dir kurz die organisatorischen Anweisungen der WTG in Bezug auf sexuellen Missbrauch bei Kindern erklären.

Angenommen, ein Kind wird von einem Zeugen Jehovas sexuell missbraucht. Das Kind wendet sich an seine Eltern, die ebenfalls Zeugen Jehovas sind. Wie werden sie reagieren?

Nun, ich weiß es nicht. Ich selbst war glücklicherweise nie in solch einer Situation. Ich kenne auch niemanden in meinem Umfeld, der so etwas erlebt hat.

Es gibt sie aber, diese Fälle. In Australien allein hat die Royal Commission 1800 Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch unter Zeugen Jehovas dokumentiert vorliegen. Ich schrieb Opfer. Es waren Kinder. Die Dokumente stammen aus der Datenbank der Watchtower Bible and Tract Society of Australia (Landes-Zweigstelle der Zeugen Jehovas). Von 1950 bis 2014 wurden diese Daten dort aufgezeichnet.

Wie gelangten diese Informationen in die Datenbank?

Das Ältestenbuch

Jeder Älteste einer Versammlung der Zeugen Jehovas erhält ein Exemplar des Buches Hütet die Herde Gottes. Dieses Buch kennen in der Regel nur Älteste. Ein „einfacher“ Zeuge Jehovas hat darin in den meisten Fällen noch nie einen Einblick erhalten. Dieses Buch dient als Anleitung, um eine Versammlung (Gemeinde) zu führen. In dem besagten Buch wird dem Thema Kindesmissbrauch ein ganzes Kapitel gewidmet (Kapitel 12, ab Seite 131). Dort wird beschrieben, wie mit einem Fall von Kindesmissbrauch umgegangen werden sollte. In der revidierten Ausgabe von 2010 heißt es direkt zu Beginn:

Die Ältesten sollten unverzüglich im Zweigbüro anrufen, wenn jemand des Kindesmissbrauchs beschuldigt wird, selbst wenn die Tat vor der Taufe des Beschuldigten lag. Das Zweigbüro erteilt je nach den Umständen entsprechende Anweisungen.
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)
Die fett markierten Wörter sind aus dem Buch entnommen

Auf diese Weise landen also die Informationen in den Zweigstellen (die deutsche Version des Ältestenbuch findest du auf Google).

Leider kann ich dir hier keine Kopie des Ältestenbuches zur Verfügung stellen oder Abbildungen aus dem Buch zeigen. Denn damit könnte ich mich strafbar machen. Die WTG macht von ihrem Urheberrecht Gebrauch und schreibt direkt zu Beginn des Buches:

Dieses Buch ist Eigentum der Versammlung. Jeder Älteste erhält ein Buch. Ein Ältester, der aus irgendwelchen Gründen sein Dienstamt verliert, gibt das Buch dem Versammlungsdienstkomitee. […] Weder das Buch noch Teile davon dürfen kopiert oder in elektronischer Form gespeichert werden.
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)

Die Wachtturm- Bibel und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas e.V. hat in einem Eilverfahren rechtliche Schritte gegen einen Webseitenbetreiber eingeleitet und auf Grundlage des Urheberrechts ein Urteil beim Landgericht Frankfurt am Main zu ihren Gunsten erwirkt. Das Urteil mit dem Aktenzeichen 2-06 O 64/17 wurde am 23.02.2017 gefällt. Die Webseite hatte insgesamt vier Bücher der Zeugen Jehovas zur Verfügung gestellt. Unter anderem das Buch Hütet die Herde Gottes.

Gerichtsurteil Seite 1
Gerichtsurteil Seite 2

Das Zitatrecht gibt mir allerdings die Möglichkeit, Teile des Ältestenbuches zu zitieren, um meine Gedanken zu erläutern (UrhG §51).

Also machen wir weiter. Im zweiten Absatz des Kapitels Kindesmissbrauch heißt es:

Kindesmissbrauch ist eine strafbare Handlung. Niemals sollte ein Ältester dazu anregen, Kindesmissbrauch nicht bei der Polizei oder einer anderen Behörde anzuzeigenAuf Anfrage sollte man deutlich sagen, dass es jedem selbst überlassen ist, die Angelegenheit anzuzeigen oder nicht, und dass deshalb in keinem Fall mit Maßnahmen seitens der Versammlung zu rechnen ist. Älteste kritisieren niemand, der einen solchen Fall anzeigt. […]
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)
Die fett markierten Wörter sind aus dem Buch entnommen

Warum müssen Älteste konkret darauf hingewiesen werden, dass sie ein Opfer von einer Anzeige nicht abhalten sollen? Und warum heißt es, dass Älteste niemanden dafür kritisieren dürfen, „der einen solchen Fall anzeigt“? Aus meiner Sicht hängt dies damit zusammen, dass in der Vergangenheit gegensätzlich gehandelt wurde.

Weiter heißt es im Ältestenbuch:

Was ist, wenn ein Bruder die Versammlung wechselt, der einen Kindesmissbrauch bestreitet, für den es nur einen Zeugen gibt? […]
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)

Wie bereits aus dem Dialog zwischen dem Anklagevertreter und Jackson hervorging, werden für die Einrichtung eines Rechtskomitees innerhalb einer Gemeinde mindestens zwei Personen benötigt, die die Tat bezeugen können. Ansonsten gilt das, was auf Seite 75 des Ältestenbuches zu lesen ist:

[…] bestreitet der Beschuldigte weiterhin die Anschuldigung des einzigen Zeugen und ist die Missetat nicht nachgewiesen,
überlassen die Ältesten die Angelegenheit Jehova.

Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)

Sexueller Missbrauch geschieht fast ausschließlich im Verborgenen. Die Chance, dass es einen zweiten Zeugen gibt, ist mehr als gering. Wenn also ein Beschuldigter die Tat abstreitet und es niemand anderes bezeugen kann, werden keine weiteren Maßnahmen unternommen.

Wenn nun der mutmaßliche Täter die Versammlung wechselt, heißt es weiter:

[…] Dann sollten die Ältesten das Zweigbüro zurate ziehen, bevor sie den Ältesten der anderen Versammlung etwas über die Beschuldigung mitteilen. Es wäre eine Hilfe, in dem Brief an das Zweigbüro die Angelegenheit sowie die persönlichen Umstände des Beschuldigten und des Anklägers ausführlich zu schildern und zu erwähnen, wie es mit beiden in geistiger Hinsicht steht. […]
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)

Auf welche Weise sollen Älteste „die persönlichen Umstände des […] Anklägers ausführlich […] schildern“? Die nachfolgende Schritt-für-Schritt-Anleitung dient dazu als Hilfe:

[…] (1) Welchen Reifegrad hat das Kind oder der/die Jugendliche? (2) Beschreibt der Ankläger ein Verhalten, das jemand in seinem Alter normalerweise nicht kennt? (3) Sind die Eltern oder das Kind als ernsthaft und reif bekannt? (4) Ist sein Erinnerungsvermögen konstant, setzt es aus oder wurden Erinnerungen verdrängt? (5) In welchem Ruf stehen seine Eltern? (6) Sind sie emotional und in geistiger Hinsicht reif?
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)

Was soll mit diesen Fragen bezweckt werden? Und was hat der Ruf der Eltern mit dem sexuellen Missbrauch zu tun? Psychologisch nicht ausgebildete Männer versuchen scheinbar mit Hilfe dieser Anleitung Informationen vom Opfer zu erhalten, welche dann ausgewertet werden um festzustellen, ob der neuen Gemeinde etwas über den mutmaßlichen Täter berichtet werden sollte.

Dabei gibt es heutzutage medizinische Methoden, um einen Missbrauch nachzuweisen bzw. zu untersuchen (Medizinische Diagnostik bei sexuellem Kindesmissbrauch).

Ärzteblätter weisen sehr deutlich darauf hin, wie behutsam Kinder behandelt werden sollten, die sexuell missbraucht wurden. Bernd Herrmann und Francesca Navratil weisen in ihrem Fachartikel Medizinische Diagnostik bei sexuellem Kindesmissbrauch auf folgendes hin:

Das Erkennen von sexuellem Missbrauch erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Vertrautheit mit den anamnestischen, somatischen und psychischen Hinweisen.
http://kindesmisshandlung.de/mediapool/32/328527/data/SKM-KJA-2005.pdf

Und nachdem sowohl der Beschuldigte als auch der Ankläger mit Hilfe der Anleitung der WTG geprüft wurden, heißt es abschließend:

[…] Nach gewissenhafter Prüfung der Angelegenheit gibt das Zweigbüro Anweisung, was (wenn überhaupt etwas) den Ältesten der anderen Versammlung über die Beschuldigung mitgeteilt werden sollte.
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)

Ich versuche das mal mit meinen Worten zusammenzufassen. Wenn ein Kind angibt, dass es von einem Zeugen Jehovas sexuell missbraucht wurde, der Beschuldigte es aber abstreitet und es auch keinen zweiten Zeugen für den Vorfall gab, dann werden nach Prüfung von meist ungeschulten Seelsorgern (Älteste) mitunter keine Informationen an die nächste Versammlung gegeben, sollte der Beschuldigte wechseln.

Reden wir an dieser Stelle Klartext: Es handelt sich hier um einen mutmaßlichen Pädophilen. Pädophilie ist eine psychische Störung. Es handelt sich nicht um „Unmoral“. Das hört nicht einfach auf, nur weil Älteste sich mit dem Vorfall beschäftigen.

In der neuen Versammlung könnte somit ein mutmaßlicher Pädophiler unbeobachteten Umgang mit Kindern haben, ohne das irgendjemand darüber Bescheid weiß.

In einer Versammlung von Zeugen Jehovas ist es nicht etwa so wie in einer Kirche. Dort kennen sich ALLE. Viele sind untereinander befreundet. Man sieht sich jede Woche mindestens zweimal. Man trifft sich regelmäßig privat. Wenn Kinder keinen Vater haben oder der Vater nicht dazu kommt, mit seinen Kindern wöchentlich die Publikationen der WTG zu studieren, werden in einigen Fällen Dienstamtgehilfen oder Älteste eingesetzt, die diese Aufgabe übernehmen. Das war auch bei mir damals der Fall. Ich habe viele Jahre, meist ohne Aufsicht, mit einem Ältesten die Bibel studiert. Diese Fälle gab und gibt es auch in der Versammlung, der ich angehörte. Zudem gehen Kinder mit Erwachsenen, die keine Familienangehörigen sind, alleine und unbeaufsichtigt in den Predigtdienst. Ich möchte hier jetzt niemanden unter Generalverdacht stellen. Ich möchte aber die Möglichkeiten aufzeigen, die bestehen, wodurch Pädophile unbeobachteten Umgang mit Kindern haben können.

Unter Zeugen Jehovas herrscht ein enormes Urvertrauen. Man würde selbst völlig fremde Personen aus einem anderen Land, die man noch nie gesehen hat, jederzeit in seine Wohnung hereinbitten und sie dort sogar übernachten lassen. Beispielsweise, wenn internationale Kongresse anstehen.

Jetzt fragst du dich vermutlich: Aber die Eltern werden doch sicherlich Anzeige erstatten?!

„Gerichtsfälle unter Brüdern“

So lautet die Überschrift des Kapitels im Ältestenbuch, welches direkt auf das Kapitel Kindesmissbrauch folgt (Kapitel 12, ab Seite 133). Im ersten Absatz heißt es:

In 1. Korinther 6:1-8 rät Paulus eindringlich davon ab, Brüder wegen persönlicher Streitigkeiten, die mithilfe von Ältesten beigelegt werden sollten, vor Gericht zu bringen.
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)

Einem Zeugen Jehovas wird in verschiedensten Publikationen der WTG immer wieder nahegelegt, dass man gegen einen anderen Zeugen Jehovas nicht gerichtlich vorgehen sollte. Oft wird dies mit Streitigkeiten, Betrug oder ähnlichen Problemen in Verbindung gebracht – (Bewahrt euch in Gottes Liebe – Anhang, S. 222-223 oder Wachtturm, 15. März 1997, S. 17-22, Wachtturm, 15. Oktober 1991, S. 25-28).

Im Wachtturm vom 1. November 1995 auf S. 28 heißt es allerdings:

Wenn sich ein Glied der Versammlung an die Ältesten wendet, weil ihm plötzliche Gedanken oder ‚verdrängte Erinnerungen‘ daran kommen, als Kind mißbraucht worden zu sein, werden normalerweise zwei der Ältesten beauftragt, Hilfe zu leisten. […] Was wäre, wenn sich der Betroffene zu einer Anzeige entschließt? Die beiden Ältesten sollten ihm dann raten, den Beschuldigten im Einklang mit dem Grundsatz aus Matthäus 18:15 selbst anzusprechen. […] Auf diese Weise kann sich der Angeklagte vor Jehova zu der Beschuldigung äußern. Vielleicht kann er sogar Beweise vorlegen, daß er den Mißbrauch nicht begangen haben kann. Es könnte auch sein, daß der Beschuldigte gesteht und es zu einer Aussöhnung kommt. Welch ein Segen das doch wäre!
Wachtturm, 1. November 1995, ab S. 28

Das Opfer soll den Täter also selbst auf die Tat ansprechen, damit dieser ihm eventuell Beweise vorlegen kann, dass er die Tat nicht begangen hat. An keiner Stelle wird erwähnt, dass es gut wäre, sich professionelle Hilfe zu suchen. Und was passiert, wenn der Beschuldigte alles abstreitet oder die Schuld dem Opfer anlastet? Das Einzige, was aus meiner Sicht hier vermittelt wurde, ist, dass es das Beste wäre, von einer Anzeige abzusehen.

Die Zeugenaussagen von Ältesten aus der Case study 29 bestätigen zudem, dass in der Vergangenheit versucht wurde, Opfer davon zu überzeugen, dass es besser wäre, sich nicht an die Behörden zu wenden, da dadurch nur der „Name Jehovas beschmutzt werden würde“.

Du denkst, dass es doch nicht sein kann, dass man sich davon leiten lässt? Du meinst, dass wenn die Ältesten die Behörden nicht einschalten, zumindest die Eltern dies tun würden? Dass im Real life alles anders läuft?

Kommen wir zum Abschlussbericht der Royal Commission.

Abschlussbericht der Case study 29

Der Abschlussbericht ist unter der Überschrift Submissions zu finden. Interessant wird es ab Part 2: Historical child sexual abuse data (Gesammelte Daten zu sexuellem Kindesmissbrauch).

2.1 Data extracted from Watchtower Australia files (ab Seite 20)

  • „Seit 1950 hat Watchtower Australia Vorwürfe, Berichte oder Anklagen von sexuellen Kindesmissbrauch gegen 1.006 Mitglieder der Organisation der Zeugen Jehovas in Australien aufgezeichnet.“
  • „Diese aufgezeichneten Vorwürfe, Berichte oder Anklagen beziehen sich auf mindestens 1.800 vermutliche Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch.“
  • „Die Akten zeigten auf, dass 579 von denen, gegen die Vorwürfe gemacht wurden, Kinder sexuell missbraucht zu haben, gestanden haben.“
  • „[…] Die Daten belegen, dass 28 mutmaßliche Vergewaltiger als Älteste oder Dienstamtgehilfen ernannt worden sind, nachdem sie des sexuellen Kindesmissbrauchs beschuldigt worden waren.“

Nur um das nochmal klarzustellen. Diese Daten stammen aus den internen Aufzeichnungen der Watchtower Australia.

Im Anschluss wurden die dokumentierten Missbrauchsfälle mit den Meldungen bei Polizei und Behörden verglichen.

2.2 Data on reporting to police (ab Seite 21)

„Die durchgeführte Analyse der Kommission zeigte, dass von den 1.006 mutmaßlichen Tätern, die des sexuellen Missbrauchs von Kindern beschuldigt worden sind und durch die Watchtower Australia identifiziert worden sind, kein einziger Fall an die Polizei oder einer anderen Behörde übergeben wurde. […]“

1800

vermutliche Opfer – Kinder die von Mitgliedern der Zeugen Jehovas sexuell missbraucht worden sind.

1006

mutmaßliche Täter, die von der Watchtower Australia von 1950 bis 2014 dokumentiert worden sind.

579

davon haben in einem internen Rechtskomitee die Tat gestanden.

0

mutmaßliche Täter wurden an die Polizei oder Behörden übermittelt.

Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch um ein Vielfaches höher. In Deutschland schätzen Experten, dass die Anzahl der nicht gemeldeten Fälle von sexuellem Missbrauch deutschlandweit um ein Zwölffaches höher ist als die Zahl der bekannten Fälle.

Man könnte jetzt behaupten, Pädophilie kommt nur in Australien vor (aktuell rund 68.000 aktive Zeugen Jehovas). Oder man könnte darüber nachdenken, dass Zeugen Jehovas in 240 Ländern der Erde aktiv sind.

Die Entscheidung meiner Frau und mir war eine Gewissensentscheidung. Wir wollten keinen stillen Ausstieg. Wir wollten uns ganz klar davon distanzieren. Wir können es mit unserem Gewissen nicht vereinbaren, weiterhin Teil dieser Organisation zu sein, die sehr offensichtlich die Täter schützt und nicht die Opfer.

In Australien hat sich sehr deutlich das Ausmaß dessen gezeigt, was dabei herumkommt, wenn die Zwei-Zeugen-Regel bei sexuellem Kindesmissbrauch angewandt wird. Das hat nichts Göttliches! Wie viele Täter konnten wiederholt ein Kind sexuell missbrauchen, weil es keinen zweiten Zeugen gab? Wie vielen Kindern hätte dieses Leid erspart bleiben können, wenn sich die Ältesten in Australien an das Gesetz gehalten und eine Meldung gemäß Section 316 of the Crimes Act gemacht hätten, anstatt sich von den Anweisungen der WTG leiten zu lassen?

Ich kenne keine andere religiöse Organisation, die […] Prozesse mit solchen Mängeln besitzt, wie wir sie bei den Zeugen Jehovas identifiziert haben.
Untersuchungsrichter Peter McClellan

Die WTG schreibt in ihren Publikationen, dass die Versammlungen von Jesus Christus angeleitet werden:

[…] Der auferstandene Jesus setzte die ihm unterstellten Engel dazu ein, seine Jünger zu unterstützen. Darüber hinaus veranlasste unser Führer, dass die Versammlung Anleitung erhielt, in dem er für eine leitende Körperschaft aus befähigten Männern sorgte.
Wachtturm 15. März 2002, Seite 13-18

Dafür fehlt mir eindeutig die Vorstellungskraft. Ein Zeuge Jehovas würde hier mitunter argumentieren, dass Jesus sich das „Treiben“ (sexueller Kindesmissbrauch) eine Weile (über 6 Jahrzehnte) anschauen würde und dann alle Taten offenbaren würde, zu seiner Zeit. Ich schrieb, so würde ein Zeuge Jehovas antworten. So hat ein Ältester mir gegenüber tatsächlich argumentiert. Problem ist nur, dass die Anleitung für die Zwei-Zeugen-Regel immer noch Bestand hat. Und wie die Case study 54 vom 10. März 2017 zeigt, auch weiterhin Probleme verursacht, was sexuellen Missbrauch bei Kindern unter Zeugen Jehovas betrifft.

In einem TV-Bericht von CNN stellte man zurecht fest, dass eine Zahl fehlte. Es wird immer darüber berichtet, dass es 1.006 Täter gab und mindestens 1.800 Opfer. Aber keiner weiß bisher, wie oft die Täter sich an den Opfern vergangen haben.

TV-Bericht CNN: Hundreds of Jehovah’s Witnesses accused of sex abuse

In der Zusammenfassung der Royal Commission heißt es, dass die Zwei-Zeugen-Regel eine Gefahr für Kinder in der Organisation der Zeugen Jehovas darstellt. Zudem ist man zu dem Schluss gekommen, dass Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch sich unbeachtet und nicht unterstützt fühlen. Auch werden Mitglieder einer Versammlung nicht vor einem Risiko gewarnt. Was Geoffrey Jackson betrifft, so stellte die Kommission fest, hat er es versäumt, die Aussagen der Opfer zu lesen oder sich damit vertraut zu machen. Dies widerlege sein behauptetes Mitgefühl mit den Überlebenden (F42, F65).

Urteile kann die Royal Commission nicht fällen. Jedoch wurden 514 mutmaßliche Täter an die Behörden weitergeleitet (Case study 54 // Transcript (Day 259): 10 March // Seite 7, ab Zeile 16).

Case study 54

Aufgrund der schwerwiegenden und systematischen Versäumnisse seitens der Watchtower Australia führte die Royal Commission ihre Untersuchungen im März 2017 fort. Angehört wurden Terrence O’Brien (derzeitiger Direktor der Watchtower Bible & Tract Society of Australia) und Rodney Spinks (Rechtsanwalt und Leiter der Rechtsabteilung der Watchtower Bible & Tract Society of Australia). Zur Anhörung wurde auch ein Mitglied der „Leitenden Körperschaft“ eingeladen. Dies wurde jedoch am 31. Januar 2017 seitens der Watchtower Australia abgelehnt.

Die Royal Commission prüfte, inwieweit die Watchtower Australia und damit verbunden auch die Wachtturm-Gesellschaft (WTG) in den letzten zwei Jahren Veränderungen vorgenommen haben, um die erkannten Probleme im Umgang mit Kindesmissbrauch in den Griff zu bekommen.

Es wurden unter anderem zwei Dokumente der WTG näher untersucht, die im Nachgang zur Case study 29 veröffentlicht wurden. Eines der Dokumente richtete sich an alle Ältesten weltweit (1. August 2016).

Dieser Brief liegt mir vor und war Gegenstand der Anhörungen. Zusammenfassend konnte ich für mich feststellen, dass sich nur eine Anweisung wirklich grundlegend verändert hat. Die Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Erörterung des geistigen und emotionalen Zustandes des Opfers ist entfallen. Ansonsten hat sich aus meiner Sicht zum Schutz der Kinder nicht wirklich etwas verändert.

Zum Ende des Briefes hieß es:

Es ist unbedingt erforderlich, euch bei jedem Fall von Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch, von dem ihr Kenntnis erhaltet, an die Anweisungen in diesem Brief zu halten. Es dient zur Wahrung der Heiligkeit des Namens Jehovas und zum Schutz von Minderjährigen.
Brief vom 1. August 2016 an alle Ältesten

Folgende Anweisungen dienen also zum Schutz:

  • Auf Hilfe durch einen Psychotherapeuten wird nicht hingewiesen. Nur auf Anfrage wird einem Opfer mitgeteilt, dass es seine Entscheidung sei, sich von einem Therapeuten helfen zu lassen.
  • Eine Meldung an die Behörden wird dem Opfer bzw. dessen Eltern überlassen. Nur wenn es gesetzlich vorgeschrieben ist, wird eine Meldung bei den Behörden gemacht (In Deutschland gibt es keine generelle Anzeigepflicht).
  • Eine Empfehlung zur Meldung an Behörden wird gemäß Anweisungen nicht ausgesprochen.
  • Nur wenn „ausreichend biblisch begründete Beweise vorhanden“ sind (Zwei-Zeugen-Regel), wird ein Rechtskomitee (interne Gerichtsbarkeit) gebildet, ansonsten gilt der mutmaßliche Täter als unschuldig und verbleibt weiterhin in der Gemeinde.
  • Bei einem Wechsel der Versammlung werden Informationen über einen mutmaßlichen Täter nur dann weitergegeben, wenn „es rechtliche Hinweise von der Rechtsabteilung und Anweisungen von der Dienstabteilung“ gibt.
  • Informationen über einen Täter, der seine Tat gestanden hat, werden nicht an die Mitglieder der Versammlung weitergegeben. Es wird nur eine „öffentliche Zurechtweisung“ ausgesprochen. Die Gründe werden allerdings nicht bekanntgegeben. Es könnte sich auch um einen Raucher handeln.

Wie Anklagevertreter A. Stewart ebenfalls feststellte, werden die Informationen aus dem Brief nicht den allgemeinen Mitgliedern zur Verfügung gestellt (Seite 16, ab Zeile 6).

Ich nehme an, dass vielen Zeugen Jehovas, wie die Vergangenheit gezeigt hat, nicht klar ist, dass sie in einem Fall von Kindesmissbrauch gerichtlich gegen einen anderen Zeugen Jehovas vorgehen „dürfen“. Diese Informationen werden nur auf Anfrage herausgegeben. Dadurch soll aus meiner Sicht anscheinend unterbunden werden, dass Opfer früherer Straftaten nun plötzlich Anzeige erstatten.

Die Zeugenaussagen, die in der Case study 29 festgehalten wurden, sowohl von Missbrauchsopfern als auch von aktiven Ältesten, zeigen, dass in erster Linie versucht wird, die Organisation nicht in den Schmutz zu ziehen – oder wie es intern heißt, den Namen Gottes nicht zu beschmutzen.

Beispielhaft ist hier die Aussage des Ältesten Joseph Bello. Er wurde angehört, da er Aussagen zu einem Missbrauchsopfer vor der Kommission tätigen sollte, in dessen Fall er als Ältester involviert war. Joseph Bello gab in den Anhörungen zu Protokoll, dass er darüber informiert wurde, dass das Missbrauchsopfer sich an die Royal Commission wenden wollte. Daraufhin sprach er mit dem Ehemann des Missbrauchsopfer und sagte ihm, „dass es nichts bewirken würde, außer den Namen Jehovas in den Schmutz zu ziehen“ – Transcript (Day 148): 28 July – Seite 37, ab Zeile 11.

Anklagevertreter A. Stewart fragte ihn daraufhin:

Angus Stewart

Ich entnehme ihrem Glauben, dass Jehova ein liebender Gott ist?

Joseph Bello

Definitiv!

Angus Stewart

Würde Jehova dann nicht mehr um das Opfer besorgt sein als um seinen eigenen Namen?

Joseph Bello

Jehova wäre um das Opfer besorgt, aber er ist ebenfalls um seinen Namen besorgt, das sagen uns die Schriften.

Ist Gott – wenn es ihn denn gibt – nicht selbst in der Lage, seinen Namen zu schützen? Benötigt er die Hilfe von Menschen? Ein Kind dagegen kann sich selbst nicht schützen. Ein Kind bedarf der Hilfe von Menschen, denen es vertraut!


Lieber Ältester, ich spreche dich nun persönlich an. Gehe einmal in dich. Vielleicht denkst du auch an deine eigenen Kinder oder Enkel. Bisher bist du vielleicht davon ausgegangen, dass es sich bei den neuen Anweisungen vom 1. August 2016 um „Helleres Licht“ handelte.

Nun hast du jedoch feststellen können, dass der Brief vom 1. August 2016 als Beweisstück, zur Entlastung vor der Royal Commission, diente. Würdest du sagen, dass durch diesen Brief einschneidende Änderungen vorgenommen wurden?

  • Werden Kinder vor Tätern bzw. mutmaßlichen Tätern in den Versammlungen jetzt besser geschützt?
  • Wird aktiv für Aufklärung in der Organisation und bei den Mitgliedern gesorgt?
  • Gibt es andere Wege, die eingeschlagen werden dürfen, wenn der Missbrauch biblisch nicht bewiesen werden kann?
  • Bist du der Meinung, dass es sich hierbei um die bestmögliche Schutzvorkehrung handelt?
  • Oder macht es eher Sinn, Präventionsverfahren innerhalb der Organisation ins Leben zu rufen, wodurch dieses Thema professionell und unabhängig in Zusammenarbeit mit Behörden und Therapeuten betrachtet werden kann?

Anklagevertreter A. Stewart stellte mit Bezug zu den neuen Dokumenten folgendes fest (Seite 45, ab Zeile 9):

[…] Sie sehen, Mr Spinks, wir befinden uns wieder da, wo wir auch in der Case study 29 waren, und kämpfen mit genau dieser Position, denn es gibt so viele verschiedene widersprüchliche Dokumente, und wir erhalten Dokumente, die als Autorität ersetzt wurden und nun als aktuelle Vorgehensweise mitgeteilt werden.
Case study 54 – Seite 45, ab Zeile 9

Informationen zu den Untersuchungen seitens der Royal Commission sucht man auf der Webseite der WTG vergeblich. Zeugen Jehovas versuchen anscheinend, im Gegensatz zu anderen Institutionen, die untersucht wurden, das Thema auszusitzen. Einzig die Medien berichten über die Untersuchungen in Australien. Doch dabei handelt es sich dann wohl einfach nur um „Propaganda“, durch die „Jehovas Organisation“ angegriffen wird. Im Wachtturm (Studienausgabe) von Juli 2017 heißt es im Artikel Gewinne den Kampf um deine Gedanken:

Lass dich ’nicht schnell erschüttern‘ und von deinem ‚vernünftigen Denken abbringen‘, auch wenn Abtrünnige oder andere Betrüger scheinbar schwerwiegende Vorwürfe vorbringen — wie plausibel sie auch erscheinen.
Wachtturm, Juli 2017 (Studienausgabe)

Wenn es sich bei Zeugen Jehovas tatsächlich, wie sie selbst sagen, um die wahre Religion handelt, warum muss die WTG dann so sehr darum betteln, dass die Mitglieder nicht das Vertrauen verlieren?

Leider funktioniert diese Art von Indoktrination tatsächlich – millionenfach. Wenn ein Zeuge Jehovas, so wie ich, jahrelang, vielleicht über Jahrzehnte von der WTG erzählt bekommt, dass Medien vom Teufel gelenkt werden, um der Organisation zu schaden, dann glaubt man das – WTG. Schließlich hat man über Jahrzehnte gelernt, dass die WTG von Gott geleitet wird. Das sagt und schreibt die WTG schließlich immer wieder über sich selbst. Kritik liest und übt man nicht. Denn, „Rebellion gegenüber den Sklaven (Leitende Körperschaft) ist Rebellion gegen Gott“ – Wachtturm, 1. August 1956. Ein perfekter Plan! Eine perfekt funktionierende „Firewall“!

Australien war kein Einzelfall und wird es auch zukünftig nicht bleiben.

„Einzelfall“?

Ich werde jetzt nicht in die Tiefe gehen, jedoch zwei Fälle kurz anschneiden sowie zukünftige Entwicklungen zu Untersuchungen und Gerichtsfällen aufzeigen.

Besonders hervorheben möchte ich den Fall von José Lopez.

José Lopez – USA

José Lopez gehörte der Versammlung im Großraum San Diego an. Er wurde von dem Zeugen Jehovas Gonzalo Campos in den Jahren von 1982 bis 1995 sexuell missbraucht. Unter Eid hat Campos zugegeben, sich an Kindern innerhalb der Organisation vergangen zu haben. 2012 ging Lopez gerichtlich gegen Campos vor. Doch nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen die WTG. Auf der Webseite des Kalifornischen Gerichts kann der Fall im Archiv eingesehen werden.

Jose Lopez vs Wachtturm Gesellschaft
José Lopez vs. Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.

1986 hat Campos innerhalb eines Rechtskomitees den Missbrauch an José sowie einem weiteren Kind zugegeben. 1988 wurde er dennoch zum Dienstamtgehilfen und 1993 zum Ältesten ernannt. Campos hat mindestens 7 Kinder von 1982 bis 1995 sexuell missbraucht.

Irwin Zalkin, der Verteidiger von José Lopez, verlangte von der WTG die Herausgabe von Dokumenten, die seit 1997 im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch gesammelt wurden. Daraus wollte Zalkin ein Muster aufzeigen, wie mit sexuellem Missbrauch innerhalb der Organisation umgegangen wird. 2014 wurde die Herausgabe der Dokumente durch die Richterin Lewis angeordnet. Doch die WTG hat dies, sowie auch die weitere Zusammenarbeit mit dem Gericht, verweigert. Gerrit Lösch, ein Mitglied der „Leitenden Körperschaft“, hat die Aussage vor Gericht im Jahre 2014 ebenfalls verweigert und dies in einem dreiseitigen Schreiben begründet.

Erklaerung Gerrit Lösch Jose Lopez
Erklärung von Gerrit Lösch zum Nichterscheinen vor Gericht im Fall von José Lopez – Seite 1.
Erklärung Gerrit Lösch Jose Lopez Seite 2
Erklärung von Gerrit Lösch zum Nichterscheinen vor Gericht im Fall von José Lopez – Seite 2.
Erklärung Gerrit Lösch Jose Lopez Seite 3
Erklärung von Gerrit Lösch zum Nichterscheinen vor Gericht im Fall von José Lopez – Seite 3.

Im Schreiben argumentierte Lösch in den Punkten 8 und 9 wie folgt:

8. I am not, and never have been, a corporate officer, director, managing agent, member, or employee of Watchtower. I do not direct, and have never directed, the day-to-day operations of Watchtower. I do not answer to Watchtower. I do not have, and never have had, any authority as an individual to make or determine corporate policy for Watchtower or any department of Watchtower.
9. Watchtower does not have, and never has had, any authority over me.

Gerrit Lösch

Gerrit Lösch hat dem Schreiben nach augenscheinlich nichts mit der WTG zu tun und hat daher auf eine Stellungnahme vor Gericht verzichtet. Dass er Teil des Entscheidungsgremiums der Organisation war und bis heute ist, hat er anscheinend vergessen. Die Strategie ging nicht auf.

Das Gericht in San Diego hat die WTG zu einer Zahlung von 13,5 Millionen US-Dollar verurteilt. Bei dem Urteil handelte es sich um ein default judgment, was in Deutschland als Versäumnisurteil bekannt ist. Die vorsitzende Richterin Lewis entschied sich zu dieser außergewöhnlich hohen Geldstrafe aufgrund der fortgesetzten Weigerung seitens der WTG, die relevanten Dokumente herauszugeben. Auch die Aussageverweigerung von Gerrit Lösch hat zu diesem Urteil beigetragen – Bericht NBC San Diego.

In einem weiteren Fall hat die WTG Dokumente an Irwin Zalkin herausgegeben, jedoch unter dem Vorbehalt, dass er diese niemand anderem zugänglich machen dürfe. Die Dokumente umfassten jedoch nicht wie gefordert einen Zeitraum von 19 Jahren, sondern nur 4 Jahre. Zudem waren Ortschaften sowie Namen von Tätern geschwärzt. Der Richter ordnete daher an, dass die WTG täglich 4.000 USD Strafe zahlen müsse, bis sie den Forderungen nachkommen würde.

Aktuell führt Irwin Zalkin 18 Verfahren gegen die WTG wegen Kindesmissbrauchs.

Candace Conti – USA

Als Candace Conti 9 Jahre alt war, wurde sie, wie sie selbst vor Gericht angab, über zwei Jahre von einem „angesehenen“ Zeugen Jehovas aus ihrer Versammlung sexuell missbraucht. Alles fing damit an, dass sie mit Jonathan Kendrick alleine in den Predigtdienst ging. Im Anschluss nahm er Candace mit zu sich nach Hause, wo er sie mehrmals im Monat missbrauchte. Dass sie sich niemandem anvertraute, begründete sie damit, dass sie dadurch die einzigen Menschen, die sie kannte, zerstört hätte.

Da man als Zeuge Jehovas oft nur Freundschaften innerhalb der Gemeinschaft hat, gibt es in der Regel niemanden außerhalb, zu dem man ein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut hat – WTG.

Jahre später fand Candace in einem Register für Sexualstraftäter Jonathan Kendrick wieder –
Jonathan Kendrik im Sexualstrafregister von Kalifornien.

Er wurde dort gelistet, weil er ein weiteres Kind aus einer anderen Versammlung sexuell missbrauchte. Sie hat sich schuldig gefühlt, nichts unternommen zu haben. Daraufhin wandte sie sich an die Ältesten ihrer Versammlung. Es wurde kein
Rechtskomitee gebildet, da Candace keinen zweiten Zeugen benennen konnte. Daraufhin wandte sie sich an die Polizei. Diese begann mit den Untersuchungen, da Kendrick alles abstritt. Candace hat zudem auch die WTG verklagt.

Vor Gericht wurden die Ältesten der Versammlung angehört, und es kam zu einer erstaunlichen Entwicklung in diesem Fall (8. November 2011).

Der Anklagevertreter fragte einen der Ältesten:

Anklagevertreter

Erinnern Sie sich, zu irgendeiner Zeit Kenntnis gehabt zu haben, betreffend sexuellen Missbrauchs eines Kindes durch Jonathan Kendrick?

Ältester

Ähm… Ja!

Die Untersuchungen ergaben, dass die Ältesten bereits von Kendricks Neigungen wussten, bevor er sich an Candace Conti verging. Das erste bekannte Opfer von Kendrick war seine Stieftochter. Es wurde weder die Versammlung gewarnt, noch wurden die Behörden eingeschaltet.

Vor Gericht fragte der Anklagevertreter einen der Ältesten, warum die Versammlung nicht unterrichtet worden war.

Ältester

Das machen wir nicht … öffentlich in der Versammlung, … das ist vertraulich.

Das Gericht entschied zugunsten von Candace Conti und hat ihr mehr als 15 Millionen USD Entschädigung zugesprochen – Gerichtsunterlagen, Bericht der NY Times.

Im Jahr 2007 wurden 16 Prozesse in den USA gegen die WTG außergerichtlich durch Vergleiche beigelegt. Die Entschädigungszahlungen gingen in die Millionen. Die Gerichtsdokumente zu diesen Fällen liegen mir vor.

Vergleiche Zeugen Jehovas Kindesmissbrauch 2007
Bild 1: Texas Potter Cnty (1 Opfer), #91048C, Beschlossen 15.02.07
Bild 2: Oregon, Marion Cnty (1 Opfer), #06C15281, Beschlossen 14.02.07
Bild 3: California, Napa Cnty (2 Opfer), #2622191, Beschlossen 12.02.07
Bild 4: California, Napa (1 Opfer), #2623929, Beschlossen 13.02.07
Bild 6: California, Yolo (3 opfer), #CV031430, Beschlossen 02.03.07
Bild 7: California, San Diego (4 Opfer), #GIE034558, Beschlossen 26.02.2007
Bild 8: California, Tehama (1 Opfer), #52594, Beschlossen 13.02.07
Bild 9: California, Tehama (2 Opfer), #52598, Beschlossen 13.02.07

Lieber Zeuge Jehovas, wenn du das nächste Mal Geld in den Spendenkasten wirfst, oder per Kreditkarte auf einem Kongress spendest, oder du dein Testament auf die WTG ausstellst, dann geh kurz in dich und denke einmal darüber nach, wofür mitunter deine Spende verwendet werden könnte.

Die beiden Urteile, sowohl im Fall von José Lopez als auch von Candace Conti, waren wegweisend. Zum einen weil es überhaupt zu Prozessen gekommen ist, zum anderen weil die Opfer die WTG direkt verklagt haben. Die Prozesse waren öffentlich und bekamen durch die Medien die verdiente Aufmerksamkeit. Nach und nach meldeten und melden sich immer mehr Opfer des sexuellen Missbrauchs und wenden sich mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit:

PENN Live, my news LALocal15Ostsee ZeitungdailymailLA Times,IndependentMirrorThe ArgusDaily EchoMirrorManchester Evening News, usw. usf.

Untersuchungskommissionen wie die Royal Commission in Australien helfen dabei, dass für Aufklärung gesorgt wird. Auch in Großbritannien haben mittlerweile zwei staatliche Kommissionen damit begonnen, die Praktiken im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch bei Zeugen Jehovas zu analysieren.

Darunter die Charity Commission, die ihre Untersuchungen im Jahr 2014 aufgenommen hat.

Gegen die Ermittlungen durch die Charity Commission hat die WTG zwei Jahre lang Versuche unternommen, diese gerichtlich zu vereiteln. Im Sommer 2016 hat das Oberste Gericht in Großbritannien die Untersuchung durch die Charity Commission jedoch für rechtens befunden.

Die Independent Inquiry into Child Sexual Abuse (IICSA) wurde 2015 ins Leben gerufen und ist vergleichbar mit der Royal Commission in Australien. Die damalige Vorsitzende Goddard hat nach Einberufung der Kommission an alle Organisationen ein Rundschreiben versandt, in dem aufgefordert wurde, sämtliche Aufzeichnungen und Dokumente in Fällen von Kindesmissbrauch der Kommission zuzusenden. Laut einer Reportage durch die BBC, hat die WTG wenige Monate nach dieser Aufforderung ein internes Rundschreiben verfasst, in dem Versammlungen aufgefordert wurden, sämtliche Unterlagen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch zu vernichten.

Auch in Deutschland hat eine Kommission ihre Arbeit aufgenommen. Mit Beschluss vom 2. Juli 2015 begrüßte der Deutsche Bundestag die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Aufklärung von sexuellem Missbrauch in Institutionen.

Da die Anweisungen für Zeugen Jehovas weltweit gleich sind, gehe ich davon aus, dass die Untersuchungskommissionen in den einzelnen Ländern die gleichen Ergebnisse zu Tage fördern werden wie die Royal Commission in Australien. Wichtig ist, dass Personen, die Opfer eines Verbrechens wurden, sich bei den Kommissionen melden. Daher muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass es nach internen Regeln möglich ist, Anzeige gegen einen anderen Zeugen Jehovas zu stellen.

Am 14. Juni 2017 hat die Aufarbeitungskommission in Deutschland ihren ersten Zwischenbericht vorgelegt. Aus dem Bericht wird ersichtlich, dass religiöse Institutionen im Jahr 2018 näher untersucht werden. Ein erster Eindruck zeigt, welche Organisationen hier unter die Lupe genommen werden:

Die Kommission wird sich außerdem verstärkt mit Missbrauch in Institutionen des Aufwachsens befassen. Bisher bekannt gewordene Kontexte im institutionellen Bereich sind u. a. Evangelische Kirche, katholische Kirche, Zeugen Jehovas […]
https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/2017/06/Zwischenbericht_Aufarbeitungskommission_Juni_2017.pdf

Engpass?

In den letzten Jahren ist vieles angestoßen worden, was der WTG in Zukunft erhebliche Probleme bereiten könnte. Der Umgang mit Missbrauchsfällen unter Zeugen Jehovas, welcher nun weltweit immer mehr Aufmerksamkeit erhält und durch staatliche Kommissionen aufgedeckt wird, könnte zu Entschädigungszahlungen von ungeahnten Ausmaßen führen.

Ob die aktuelle Sparpolitik der WTG etwas mit den weltweiten Missbrauchsvorwürfen zu tun hat, kann ich nicht beurteilen. Meiner Meinung nach kann es da durchaus einen gewissen Zusammenhang geben. Die momentanen Umstrukturierungen der WTG sind aber unabhängig von dieser These interessant genug, um diese einmal näher zu betrachten.

Es ist noch nicht allzu lange her, da erschienen der Wachtturm sowie die Zeitschrift Erwachet! mit zusammen 128 Seiten monatlich. Die Anzahl der Seiten hat sich mittlerweile halbiert, und die Zeitschriften erscheinen nur noch alle zwei Monate vierteljährlich im Wechsel.

Eine andere interessante Entwicklung betrifft die aktuelle Entlassungswelle unter Zeugen Jehovas. Am 11. Oktober 2015 erhielten alle Sonderpioniere einen Brief von ihrem jeweiligen Zweigbüro.

In dem Brief hieß es:

Kürzlich erhielten wir von der Leitenden Körperschaft Anweisungen, die eine weltweite Umstrukturierung in nahezu jedem Bereich des Werkes zur Folge haben. Unter anderem ist auch der Einsatz der Sonderpioniere betroffen, weswegen bereits schon einige Sonderpioniere gebeten wurden, ihren Dienst als allgemeine Pioniere fortzusetzen.
Brief vom 11. Oktober 2015, Reduzierung der Anzahl der Sonderpioniere

Allgemeine Pioniere müssen sich im Gegensatz zu Sonderpionieren selbst versorgen. Es handelt sich hierbei anscheinend um Einsparungen seitens der WTG.

Dieses Schicksal traf auch rund 5.500 Mitarbeiter in den weltweiten Zentralen. Im Jahrbuch 2017 der Zeugen Jehovas heißt es zu Beginn des Kapitels Das Predigtwerk hat Vorrang:

AM Mittwoch, den 23. September 2015 informierte die leitende Körperschaft die weltweite Bethelfamilie über eine Reihe organisatorischer Veränderungen, die nötig waren, damit die Spendengelder so gut wie möglich verwendet werden können. […] In der Folge haben seit September 2015 etwa 5 500 Brüder und Schwestern das Bethel verlassen. Diese Veränderungen erforderten zwar große Anpassungen. Doch Jehovas Segen ist nicht zu übersehen.
Jahrbuch der Zeugen Jehovas 2017: Das Predigtwerk hat Vorrang

Ganz nebenbei finde ich die Formulierung „haben […] 5 500 Brüder und Schwestern das Bethel verlassen interessant. Diese Menschen haben ihr Zuhause sicher nicht freiwillig verlassen, sondern wurden augenscheinlich entlassen. Jahrelang, vielleicht sogar Jahrzehnte haben viele Zeugen Jehovas freiwillig in den Zweigstellen der WTG oder als Sonderpioniere gearbeitet und dadurch weder in eine Rentenversicherung eingezahlt noch hatten sie das Geld, um private Rücklagen zu bilden. Zudem sind sie seit vielen Jahren aus dem Arbeitsleben raus. Wenn man bereits im fortgeschrittenen Alter ist, dann hat man, spätestens ab diesem Zeitpunkt, erhebliche Probleme. Ein ehemaliger Sonderpionier hat stellvertretend seiner Enttäuschung in einem Brief an die Zweigstelle Luft gemacht:

Ich stehe in meinem Alter als Ungelernter vor dem Nichts. […] Ja, diese Entscheidung kommt, wie ihr richtig vermutet, für mich unerwartet, und ich glaube nicht mehr, dass die Leitende Körperschaft und das Zweigbüro meine Opferbereitschaft wirklich schätzten.
Ehemaliger Sonderpionier

Obwohl die gedruckten Publikationen zurückgefahren werden, die Sonderpioniere und Mitarbeiter in den Zentralen drastisch reduziert werden, wird dennoch der Druck bezüglich der Spenden erhöht.

In einer Ausgabe von JW Broadcasting (Online-TV-Format von Zeugen Jehovas) im Mai 2015, moderiert von Stephen Lett (Mitglied der Leitenden Körperschaft), wurde wortwörtlich gesagt:

[…] Aus dieser Analyse geht hervor, dass wesentlich mehr Ausgaben auf uns zukommen, als wir durch Spenden einnehmen werden.
JW Broadcasting Mai 2015, ab 15:04

Zu Beginn der TV-Ausgabe wurde Sprüche 3:9 vorgelesen: „Ehre Jehova mit deinen wertvollen Dingen und mit den Erstlingen deines ganzen Ertrages.“

Im Nachgang erklärte Lett, dass es sich bei den wertvollen Dingen um Zeit, Geld und Besitz handeln würde. Mit diesen Dingen könne man die Organisation unterstützen – WTG.

Stephen Lett führte weiter aus: „Wir würden niemandem eine Aufforderung schicken, auf der stünde, wie viel er monatlich für das weltweite Werk spenden soll.“

Da hat er recht. Das wird ganz anders gemacht. Ich erinnere mich an eine Versammlung (es müsste 2014 gewesen sein), in der jeder gebeten wurde, auf einen Zettel zu schreiben, wie viel er monatlich spenden kann. Begründet wurde dies damit, dass die Organisation dadurch besser kalkulieren könne, wie viel monatlich in Zukunft an Spenden zusammen kommt, um die weltweiten Baumaßnahmen durchzuführen. „Einen Moment“, mag der gewiefte Leser denken, „seit Jahrzehnten haben Zeugen Jehovas monatliche Aufzeichnungen über das Spendenverhalten einer jeden Versammlung vorliegen“. Ja , richtig. Und aus diesen Statistiken müsste eigentlich klar ersichtlich sein, mit welchen Einnahmen die Organisation rechnen kann.

Das Einzige, was aus meiner Sicht erreicht wurde, ist die innerliche Verpflichtung auf unbestimmte Zeit, monatlich dem nachzukommen, was man versprochen hat.

2016 wurde während einer Versammlung darauf hingewiesen, dass es eine Diskrepanz gebe zwischen dem, was damals per Zettel angegeben worden war und dem, was tatsächlich monatlich gespendet wurde. Daher wurde angekündigt, dass die Aktion wiederholt werde und jeder nochmal über seine Möglichkeiten zu Spenden nachdenken sollte.

Stephen Lett führte in der Sendung weiter aus, dass in Zukunft für den Bau von Königreichssälen mehr Mittel benötigt werden. Auch in dem Brief vom 29. März 2014 an alle Versammlungen hieß es: „Der Bedarf an Kongress- und Königreichssälen ist größer als je zuvor. Gegenwärtig werden weltweit über 13 000 Königreichssäle und 35 Kongresssäle benötigt.“ (Stand März 2014).

Schauen wir uns die weltweite Entwicklung der Versammlungen näher an:

Entwicklung Versammlungen Zeugen Jehovas
Entwicklung der Versammlungen weltweit seit 2011. Zahlen entnommen aus den Jahrbüchern von Zeugen Jehovas.

Wenn wir das nun mit dem weltweiten Wachstum vergleichen, stellt sich die Frage, wie der Bedarf von aktuell 13.000 Immobilien gerechtfertigt wird.

Zudem muss man bedenken, dass die dargestellte Entwicklung der Versammlungen auf Gemeinden bezogen ist und nicht auf Immobilien. Im Schnitt kommen rund 2 bis 3 Versammlungen in einem Königreichssaal unter. In Berlin liegt der Schnitt sogar bei 5,2. Warum mit einem Mal dieser enorme Bedarf, wenn das Wachstum und die Anzahl der Versammlungen eher unauffällig sind?

Eigentlich dürfte es an finanziellen Mitteln für Bauprojekte nicht fehlen. Denn durch den Umzug der Weltzentrale der WTG von Brooklyn nach Warwick wurden augenscheinlich enorme Gewinne erwirtschaftet.

Jahrzehntelang befand sich die Hauptzentrale der WTG in Brooklyn (New York). Darunter zählten rund 40 Immobilien in Brooklyn Heights.

Viele dieser Immobilien wurden bereits verkauft. Eigens für den Verkauf wurde eine eigene Immobilienagentur gegründet, die Watchtower Brooklyn Real Estatehttps://www.watchtowerbrooklynrealestate.com/.

Auf deren Webseite bekommt man einen kleinen Eindruck, wie wertvoll der Immobilienbesitz der WTG in New York ist. Nur nebenbei erwähnt wird auch in London mittlerweile fleißig verkauft – http://ibsaproperty.com/.

Die neue Hauptzentrale wurde in Warwick (New York) errichtet. Laut der New York Post hat der Neubau rund 11,5 Millionen US-Dollar gekostet.

Die Personalkosten waren sicherlich überschaubar. Denn wie bei Königreichssälen und Kongresssälen wurde auch die Weltzentrale mithilfe von freiwilligen Helfern (Zeugen Jehovas) aus der ganzen Welt errichtet – WTG.

Der Immobilienbesitz in Brooklyn wurde Stück für Stück veräußert. Der Gewinn kann sich sehen lassen:

Unterm Strich macht das 804,375 Mio. USDWELTNew York Post

2016 hat die WTG bekannt gegeben, dass nun auch das Hauptgebäude mit dem von der Brooklyn Bridge nicht übersehbaren Schriftzug Watchtower verkauft wurde. Käufer war der Schwiegersohn von Donald Trump, Jared Kushner.

Ehemalige Hauptzentrale der Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn (New York)
Quelle: Sergio Herrera

Laut Schätzungen von Experten lag der Verkaufspreis der Hauptgebäude bei rund 1 Milliarde US Dollar.

Gebaut haben Zeugen Jehovas schon immer. Gedruckt wurde auch schon immer. Warum heißt es dann seitens der WTG, dass „wesentlich mehr Ausgaben auf uns zukommen, als wir durch Spenden einnehmen werden“?


Die Hinweise häufen sich, dass eine Vielzahl von Gerichtsprozessen auf die WTG zukommen kann, die enorme Entschädigungszahlungen nach sich ziehen könnten. In den USA und Großbritannien haben allein drei Fälle von Kindesmissbrauch Millionen an Entschädigungszahlungen nach sich gezogen. Von den Vergleichszahlungen ganz zu schweigen. Auch die Fälle in Australien (bisher 1.800 dokumentierte Opfer) werden finanziell sicherlich nicht ohne Folgen bleiben. Richter McClellan, der die Anhörungen zur Case study 29 in Australien führte, machte Geoffrey Jackson darauf aufmerksam, dass die Kommission ein Entschädigungsprogramm für Missbrauchsopfer erwägt. Daraufhin fragte Richter McClellan, ob Zeugen Jehovas sich daran beteiligen und mit anderen Institutionen kooperieren würden. Eine direkte Zusage gab es nicht. Zunächst müsse geprüft werden, ob biblisch nichts dagegen spräche, so Geoffrey Jackson.

Der Austritt

An einem Montagabend im März 2017 haben meine Frau und ich beschlossen, die Organisation der Zeugen Jehovas zu verlassen. Es war ein sonniger Tag mit angenehmer Temperatur. An diesem Tag habe ich ein letztes Mal etwas mit meinen Freunden unternommen. Wir waren mit einer größeren Gruppe gemeinsam auf einem Sportplatz und haben Flag-Football gespielt. Wir hatten eine Menge Spaß, und ich habe den lauen Märzabend mit zwei meiner engsten Freunde bei meinem Lieblings-Dönerladen ausklingen lassen. Eigentlich war es nichts besonderes. Aber wenn einem bewusst wird, dass deine Freunde dich in Zukunft meiden und dich als „Abtrünnigen“ bezeichnen werden, dann genießt man jede Sekunde mit ihnen.

Am Freitag darauf hatten wir unser gewohntes Gemeindetreffen. Diese Versammlungen fanden jede Woche freitags und sonntags statt und gingen in der Regel eine Stunde und 40 Minuten. Dass man einer Versammlung nicht beiwohnte, war eher die Ausnahme. An diesem Freitag besuchten wir unsere Versammlung jedoch ein letztes Mal. Meine Frau und ich waren alleine. Unsere Kinder haben wir bei den Eltern meiner Frau untergebracht. Meine Schwiegereltern sind selbst keine Zeugen Jehovas.

Der Weg zur Versammlung war für uns beide nicht leicht. Uns war bewusst, dass es nach diesem Abend kein Zurück mehr geben wird. Bevor die Versammlung begann, habe ich dem Aufseher der Ältesten mitgeteilt, dass ich von sämtlichen Ämtern und „Vorrechten“ zurücktreten wolle. Natürlich fragte er nach den Gründen. Da ich zu diesem Zeitpunkt bereits das Ältestenbuch gelesen hatte, wusste ich, wie ich reagieren müsste, um zunächst weiteren Nachfragen aus dem Weg zu gehen. Er teilte mir mit, dass sich zwei Älteste bei mir melden würden.

Unsere letzte Versammlung haben wir in einer der hinteren Reihen verbracht. Vom Programm selbst bekamen wir kaum etwas mit. Unsere Blicke schweiften durch die Versammlung, und wir beobachteten wehmütig unsere Freunde. Am Ende der Versammlung versuchten wir, viele unserer Freunde zu umarmen – ein letztes Mal. Sie selbst wussten nicht, dass es ein Abschied für immer war.

Am selben Abend sind wir zu den Eltern meiner Frau gefahren. Im Gegensatz zu vielen anderen, die die Organisation der Zeugen Jehovas verließen, hatten wir Menschen, die uns aufgefangen haben. Die uns verstanden und uns zuhörten. Meine Schwiegereltern waren überglücklich, dass wir diesen Schritt unternommen haben.

„Papa, werden wir jetzt ausgeschlossen?“

Am nächsten Tag (Samstag) kam der bereits angekündigte Anruf der Ältesten. Ich vereinbarte mit ihnen ein Treffen für Montag.

An diesem Samstag schien die Sonne, es war ein herrlicher Tag. Doch innerlich fühlten wir uns unwohl. Uns wurde immer mehr bewusst, welche Konsequenzen unsere Entscheidung nach sich ziehen würde. Wir mussten anfangen, das Gleichgewicht in unserem Leben wiederherzustellen und begannen damit, unserem fünfjährigen Sohn über unseren Schritt zu informieren. Im Vorfeld hatten wir bereits mehrfach darüber gesprochen, wie wir dabei vorgehen würden. Trotz aller Vorbereitungen wussten wir jedoch nicht, wie er darauf reagieren würde. Er tat es zunächst nicht mit Worten. Er war den Tag über sehr verschlossen und wirkte alles andere als glücklich.

Wir versuchten den Tag für ihn so angenehm wie möglich zu gestalten. Am Nachmittag war ich alleine mit ihm auf dem Spielplatz. Dort äußerte er seine ersten Überlegungen: „Papa, werden wir jetzt ausgeschlossen?“. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum er so schlussfolgerte. Wir haben nie mit ihm über so etwas gesprochen. Zudem sagte er mir, dass er seine Freunde vermissen werde. Das tat sehr weh. Und anscheinend hat er mehr mitbekommen, als wir dachten.

Am späten Nachmittag wollte mein Sohn mit mir unbedingt zu einem abgelegenen Bolzplatz fahren. Nur Wald und Wiesen, so weit man schauen kann. Die Sonne war gerade dabei unterzugehen. Ein einsames Tor auf einem Acker. Er hat so viel gelacht und einfach nur Spaß gehabt. Als wir mit dem Auto zurück fuhren, sagte er zu mir: „Papa, jetzt bin ich wieder glücklich“.

Am Sonntag, als wir wieder zu Hause waren, klingelte meine Mutter an unserer Tür, nachdem wir sie zu uns eingeladen hatten. Es war kein schönes Gespräch. Im Nachhinein bereue ich es, dass wir einfach nur gegenseitig unsere Argumente ausgetauscht haben. Sie verschwand sehr plötzlich, und ich habe seitdem keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Ich schrieb ihr noch eine Nachricht, in der ich ihr meine Gefühle ausgeschüttet habe und ihr zusicherte, dass sie sich jederzeit bei mir melden könne, wenn ihr danach ist.

Das Ältestengespräch

Am nächsten Tag besuchten uns, wie verabredet, zwei Älteste aus unserer Versammlung. Unsere Kinder schliefen bereits. Gleich zu Beginn war klar, in welche Richtung das Gespräch gehen würde. Die zwei wollten das Treffen mit einem Gebet einleiten, was ich jedoch freundlich ablehnte. Danach haben wir ihnen unsere Entscheidung mitgeteilt, dass wir die Organisation der Zeugen Jehovas verlassen werden. Wir sprachen unsere drei Hauptgründe an:

  1. Wir könnten unseren Kindern eine Bluttransfusion im Notfall nicht verweigern und würden ihnen daher auch keinen Blutausweis ausstellen, der Ärzte in Form einer Patientenverfügung informiert.
  2. Wir haben ein Problem mit dem Kontaktabbruch, vor allem innerhalb der Familie.
  3. Der Umgang mit Kindesmissbrauch innerhalb der Organisation schützt aus unserer Sicht nicht die Kinder, sondern die Täter.

Ich kann rückblickend sagen, dass es zwar kein einfaches Treffen war, doch trotz der Umstände war es ein sehr ruhiges Gespräch. Wir sind uns einander mit sehr viel Respekt begegnet. Es standen dennoch jedem von uns die Tränen in den Augen. Meine Frau und ich hatten das Gefühl, dass die zwei uns nicht loslassen wollten. Immer wieder haben sie gefragt, was das denn letztendlich bedeuten würde, obwohl wir dies bereits mehrfach geäußert hatten. Sie mussten auch zugeben, dass wir uns sehr intensiv mit dem Thema Kindesmissbrauch auseinandergesetzt haben und sie selbst gar nicht so tief über die Fälle unterrichtet waren. Sie haben auch nicht versucht das Thema irgendwie runter zu spielen, sondern mussten natürlich in vielen Dingen, wie der Zwei-Zeugen-Regel, zustimmen.

Ich fragte ganz direkt einen der Ältesten, ob man zu 100% ausschließen könne, dass es in unserer Versammlung oder einer Nachbar-Versammlung einen mutmaßlichen Pädophilen geben könnte, der aufgrund der Zwei-Zeugen-Regel nicht belangt werden könne.

„Ausschließen kann man das nicht“, war die Antwort.


Der Abschied war schwer. Wir haben uns sehr fest gedrückt, und uns allen liefen dabei die Tränen. Es fühlte sich so unmenschlich an, was da gerade passierte. Wir haben mehrfach betont, dass wir immer noch dieselben sind. Wir lieben alle unsere Freunde genauso wie zuvor. Wir haben einfach nur eine andere Meinung. Und dennoch ändert es nichts. Dass man uns in Zukunft meiden würde, war unausweichlich. Sie sagten uns, dass jederzeit die Türen offen stehen würden. Dass wir jederzeit zurückkommen könnten, wenn wir es möchten.

Der Abschied von unseren Freunden

Am darauf folgenden Freitag wurde unsere Entscheidung während der Versammlung öffentlich von der Bühne bekannt gegeben. Doch bis dahin haben wir die Zeit genutzt, um uns von unseren engsten Freunden zu verabschieden. Wir taten dies nicht persönlich, sondern per Text- oder Sprachnachricht. Wir wollten vermeiden, dass sie durch ein persönliches Gespräch direkt zu einer Reaktion gezwungen werden. Wir wussten, dass der eine oder andere Zeit benötigen würde, um darauf zu reagieren. Wir haben ihnen mitgeteilt, welchen Weg wir einschlagen werden, und haben jedem einzelnen noch ein paar persönliche Gedanken hinterlassen. Die Gründe für unsere Entscheidung behielten wir für uns. Jedoch hätte jeder diese Gründe von uns erfahren können, wenn er oder sie es wirklich gewollt hätte.

Einem Freund habe ich die Gründe allerdings persönlich mitgeteilt. Bei ihm war ich mir sicher, dass ich über alles reden kann. Manchmal bin ich mir unsicher, ob es richtig war, dass ich ihn mit den Gründen konfrontiert habe. Er war auf diese Situation in keinster Weise vorbereitet. Ich wollte zu diesem Zeitpunkt aber einfach mit einem Freund darüber sprechen. Dafür sind Freunde da. Und irgendwie habe ich bis zum Schluss daran geglaubt, dass Freundschaften bedingungslos sein können. Allerdings hängt jede Freundschaft bei den Zeugen Jehovas davon ab, dass man den Bedingungen der WTG gerecht wird.

Den Abschied von diesem Freund werde ich nie vergessen. Wir haben uns in den Armen gelegen und geweint. Nein, es war eher ein Schluchzen. Ungefähr so muss es sich anfühlen, wenn man sich von einem Freund verabschiedet, bei dem man weiß, dass er von einem geht. Wir wollten einfach nicht loslassen. Uns beiden war in diesem Moment wohl bewusst, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Als sich unsere Wege trennten, habe ich den ganzen Weg über den da oben – zumindest den, den ich durch die WTG kennengelernt habe – verflucht und ihn in meinem Herzen angeschrien. Die Wörter, die ich im Kopf hatte, waren nicht jugendfrei. Ich dachte mir, wie kann ein „Gott der Liebe“ eine Vorkehrung ins Leben rufen, um Freunde und Familie voneinander zu trennen, um wen auch immer vor irgendetwas zu schützen?!

Für meine Frau war der Abschied von ihren Freundinnen ein enormer Kraftakt. Ich denke, wenn sie selbst hier schreiben würde, könnte sie das deutlich besser wiedergeben. Ich war aber sehr froh darüber, dass sich alle ihre Freundinnen bei ihr zurückgemeldet und sich ebenfalls von ihr verabschiedet haben. Ich denke, das hat ihr geholfen, diesen Verlust besser zu verarbeiten. Eine ihrer engsten Freundinnen hat sich sehr viel Zeit gelassen mit einer Antwort. Zunächst hat sie ihr nur geschrieben. Doch ein paar Tage später hat sie meine Frau angerufen. Die beiden haben, wie mir meine Frau erzählte, sehr viel geweint und zum Ende kaum ein Wort mehr raus bringen können. Ihre Freundin sagte ihr, dass, sobald sie auflege, sie nichts mehr voneinander hören werden. Sie hatten eine sehr enge Bindung zueinander. Ich weiß, wie viel diese Freundin meiner Frau bedeutete. Von einem Tag auf den anderen war jedoch alles vorbei.

Nur weil sieben Männer, die keiner aus unserem Umfeld persönlich kennt, irgendeine Anweisung aus New York erteilen, gibt man den Kontakt und die Freundschaft zu den Menschen auf, die man seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten kennen und lieben gelernt hat.

Bis heute achten wir sehr darauf, dass kein Groll in uns aufkommt. Auch wenn es unheimlich weh tut, wenn Freunde und Familienangehörige uns meiden, uns auf sämtlichen Kanälen blockieren und auf der Straße nicht mehr grüßen, so wissen wir, aus welchen Beweggründen sie so reagieren. Uns ist bewusst, dass wir vor einiger Zeit vermutlich genauso gehandelt hätten. Für Außenstehende ist dies nur schwer nachvollziehbar. Für uns, die wir selbst einmal so eingeengt im Denken waren, ist dieses Verhalten verständlich.

Wir selbst waren nicht dabei, als in unserer Versammlung die Entscheidung von uns beiden bekannt gegeben wurde. Von der Bühne wird ein Ältester folgenden Satz vorgelesen haben: „Oliver und [Frau] Wolschke sind keine Zeugen Jehovas mehr“. Kurz und „schmerzlos“. Von da an galt es offiziell den Kontakt zu uns zu meiden für jeden Zeugen Jehovas. Nach der Bekanntgabe wurde es dann auch ziemlich schnell grau bei WhatsApp. Eine Vielzahl von Freunden hat uns nach und nach blockiert. Die darauffolgenden Tage ging es dann auch los, dass Freunde, die nicht aus unserer Gemeinde waren, uns blockierten. Es scheint die Runde gemacht zu haben.

Wir haben damit gerechnet, dennoch tat es weh. Das sollte es wohl auch. Wir nahmen und nehmen es aber niemandem übel. Jedoch haben uns die Reaktionen darin bestärkt, das Richtige getan zu haben.

Ein Wiedersehen?

Eine Sprachnachricht eines Freundes hat mich besonders berührt. Am Ende der Nachricht sagte er, „[…] hoffentlich nicht lebwohl, aber irgendwann hoffentlich ein Wiedersehen. […] Wir hoffen, euch irgendwann wieder in den Arm zu nehmen“.

Das ist auch unsere Hoffnung!

Diese wird allerdings nicht durch eine Rückkehr zur WTG Wirklichkeit werden. Denn eine Rückkehr zu den Zeugen Jehovas ist ausgeschlossen.

Selbst wenn sich die Anweisungen im Umgang mit Kindesmissbrauch verändern würden, wäre dies kein Grund für uns zurückzukommen. Ich würde es wirklich sehr begrüßen, wenn die Zwei-Zeugen-Regel im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch entfallen würde. Dadurch würde vielen Kindern unendliches Leid erspart bleiben. Doch sämtliche organisatorischen Veränderungen, ob diese bereits stattgefunden haben oder noch stattfinden, sind aus meiner Sicht auf den Druck durch die Öffentlichkeit zurückzuführen und nicht auf das Gewissen der sieben Männer aus New York (Sie werden diese Regel aber anscheinend nicht ändern).

Unsere Entscheidung beruhte auch nicht ausschließlich auf den bisher genannten Gründen. Wenn erstmal die „Firewall“, die einen Zeugen Jehovas umgibt, heruntergefahren ist, merkt man recht schnell, dass das Fundament, welches die WTG über Jahre errichtet hat, nur auf Sand gebaut wurde. Aus der Vogelperspektive wirkt es wie ein Kartenhaus, das immer wieder droht, in sich zusammenzubrechen. Dann wird hektisch versucht, die Lehren, die im Begriff sind einzustürzen, wieder durch „heller werdendes Licht“ geradezubiegen (1799, 1873, 1874, 1914, 1915, 1918, 1925, 1975, Beginn der „Letzten Tage“, Beginn der „Großen Drangsal“, Gegenwart Jesu, „Die Generation, die nicht vergehen wird“, Einsammlung der Gesalbten, 607 v. u. Z., usw. usf.).

Doch auch hier schafft es die Organisation, den Schaden einzugrenzen. Die Watchtower Library reicht nur noch bis in das Jahr 1970 zurück – die JW Library-App beinhaltet nur noch Publikationen bis zum Jahr 2000. Die Online-Bibliothek unter wol.jw.org reicht mittlerweile jedoch bis in das Jahr 1960 (englisch bis 1950) zurück, sodass ein Zeuge Jehovas die kruden Ansichten und Versprechungen nachvollziehen kann. Beispielsweise, die wilden Spekulationen zu Harmagedon für das Jahr 1975, die die WTG in den 1960er Jahren von sich gegeben hat (Erwachet! 22.4.1967 Seite 17 – 20; Wachtturm 15.11.1968, S.691; Wachtturm 01.01.1967; Königreichsdienst Mai 1974 –
englisch, uvm.). Die Vorhersagen zu 1914 und 1925 sind dagegen als Teil der Geschichte dieser Organisation verschwunden. Dazu müsste ein Zeuge Jehovas einen Zugriff auf frühere Publikationen haben. Doch diese sind im Netz nur auf Seiten von „Abtrünnigen“ zu finden – Endstation!

Sollten wir aufgrund dieses Studiums annehmen, dass im Herbst 1975 die Schlacht von Harmagedon vorüber sein und die lang ersehnte Tausendjahrherrschaft Christi beginnen wird? Vielleicht; wir wollen aber abwarten und sehen inwieweit die siebente 1000 Jahr Periode der Menschheitsgeschichte mit der sabbatähnlichen Tausendjahrherrschaft Christi zusammenfällt. […] Der Unterschied mag höchstens einige Wochen oder Monate, keinesfalls Jahre ausmachen.
Wachtturm 15.11.1968, S.691

Einen ungefähren Eindruck, wie der Floh von 1975 den Anhängern ins Ohr gesetzt wurde, erhält man, wenn man der Rede von Konrad Franke (damaliger Leiter des Zweigbüros in Deutschland) lauscht, die er 1968 in Hamburg hielt:

Es wird immer wieder eine neue Generation von Zeugen Jehovas geben, die kaum noch Kenntnis hat über die damaligen Lehren und Vorgehensweisen der WTG. Meiner Erfahrung nach kennt sich kaum einer der Anhänger mit der Geschichte der Zeugen Jehovas wirklich aus. Beispielsweise aus welcher Bewegung (William Miller) der damalige Gründer Charles Taze Russell kam – Quelle, Quelle. Die Wenigsten sind mit den Ansichten, die Russell damals hatte, vertraut. Die nach seinen Aussagen und nach Aussage der Organisation von Gottes Geist geleitet waren. Würde man diese Ansichten heute auch nur ansatzweise vertreten, würde dies dazu führen, dass man wegen falscher Lehren ausgeschlossen wird. Genau das gleiche wäre passiert, wenn man damals die Lehren von heute vertreten hätte.

Vermutlich ist kaum jemandem bekannt, dass die „Leitende Körperschaft“ als Gruppe erst seit den 1970er Jahren die Lehren der Zeugen Jehovas prägte. Zuvor wurden die Glaubenslehren von einzelnen Männern – den Präsidenten der WTG – beschlossen (Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes, 1993, S. 108 u. 109, Aussage von Präsident Fred Franz: „Der Schwanz, der mit dem Hund wedelt“). Noch weniger bekannt mag dem einzelnen Zeugen Raymond Franz sein, besonders der jüngeren Generation nicht. Raymond Franz war 60 Jahre lang ein Zeuge Jehovas und neun Jahre lang Mitglied der „Leitenden Körperschaft“. Am 22. Mai 1980 verließ er in einem Rücktrittsschreiben die „Leitende Körperschaft“. Die Dinge, die er in Erfahrung brachte, belasteten sein Gewissen schwer. In seinem Buch Der Gewissenskonflikt erhält man einen Einblick, wie die Führungsebene tatsächlich agierte.

Die ältere Generation von Zeugen Jehovas wird dagegen einiges mehr an Erfahrung und Wissen besitzen, was die Entwicklung der Zeugen Jehovas betrifft. Doch die wenigsten dieser Menschen werden sich zutrauen, die Organisation zu verlassen. Sie haben sehr wahrscheinlich Angst vor der Einsamkeit, dass im Alter niemand mehr für sie da sein würde. Viele dieser Menschen haben aufgrund der Organisation auf einen Partner oder auf Kinder verzichtet mit dem Gedanken, dass sie in der „Neuen Welt“ all das nachholen könnten. Es gibt unter Zeugen Jehovas auch Menschen, die homosexuell sind. Aufgrund ihres Glaubens, geprägt durch die WTG, unterdrücken sie ihre Gefühle und verzichten auf das Zusammenleben mit einem Partner – WTG, Video. Sie hoffen darauf, dass sich in der „Neuen Welt“ ihre Gefühle umkehren werden.

Einige haben geliebte Menschen, darunter auch Kinder verloren, die auf eine Bluttransfusion oder in früheren Jahren sogar auf eine Organspende verzichtet haben (Wachtturm, 15. Februar 1968, Seite 126-128). Es ist schade, was Menschen in ihrem Leben aufgegeben haben, um den Ansprüchen der WTG gerecht zu werden.

Vielen, die der WTG jedoch den Rücken gekehrt haben, ging es ähnlich wie meiner Frau und mir. Es hat Jahre oder sogar Jahrzehnte benötigt, um dieses Glaubensgebäude aufzubauen. Doch es bedarf nur weniger Tage, dieses wieder einzureißen. Dem Internet sei Dank, finden immer mehr Menschen den Weg heraus aus diesem unsichtbaren Gefängnis. Meiner Meinung nach ist das Internet auch der größte Feind der WTG. Sämtliche Lehren, vermeintlich wissenschaftliche oder historische Aussagen in den Publikationen, finanzielle Aktivitäten und Investitionen der WTG (NCCS, SEC), Kooperationen mit Organisationen wie beispielsweise mit der UNO (UN, Wikipedia), können heutzutage mit Leichtigkeit untersucht werden.

Und wer sich erst einmal auf den Weg gemacht hat, der kann nicht mehr zurück. „Sag niemals nie“, heißt es oft. Doch ich kann aus Überzeugung sagen: Nie wieder!

Wir würden uns freuen, wenn meine Mutter sowie Freunde den Weg raus aus dieser Organisation finden. Nicht nur für uns, sondern ganz besonders für sie persönlich. Wir hoffen irgendwann, unabhängig von den Statuten einer Organisation, unsere Freunde wieder in den Arm nehmen zu können. Für meine Mutter hoffe ich, dass sie ihre Enkel irgendwann wieder in den Arm nehmen kann und nicht den Rest ihres Lebens auf den Kontakt mit ihrer Familie zugunsten einer Organisation verzichtet. Uns ist bewusst, dass die Chancen hierfür eher gering sind. Und ich bin mir auch dessen bewusst, dass ich mit diesen Zeilen niemanden dazu bringen werde, dass er von heute auf morgen die WTG verlässt. Aber vielleicht konnte ich dem einen oder anderen einen Impuls geben.

Ein Leben danach

Zum Abschluss meiner Erzählung möchte ich dir noch berichten, wie es mir aktuell geht.

Ein Zeuge Jehovas wird sich das nur schwer vorstellen können, aber meine Frau und ich sind glücklich. Bisher ist kein Tag vergangen, an dem wir nicht darüber gesprochen haben, wie viel Glück wir hatten, dass wir unser Leben und vor allem das Leben unserer Kinder retten konnten. Jemand, der selbst nie ein Teil solch einer Bewegung war, kann sich nur schwer vorstellen, wie sehr man in seinen Gedanken gefangen ist. Und wie unheimlich schwer der Schritt raus aus dieser Sklaverei des Denkens ist. Wir hatten Glück, dass unsere Kinder noch in einem Alter sind, in dem sie sich emotional nicht zu sehr an diese Organisation gebunden haben. Es gibt viele Berichte von Eltern, die den Absprung erst geschafft haben, als ihre Kinder bereits Jugendliche und selbst getaufte Zeugen Jehovas waren. Sie sind häufig mit Schuldgefühlen belastet, da sie den Glauben an die WTG ihren Kleinen selbst indoktriniert haben. Ihre Kinder blieben in der Organisation und meiden seither den Kontakt zu ihren Eltern.

Als unsere Entscheidung feststand, die Organisation zu verlassen, wurden in der Kita unserer Söhne gerade Ostereier bemalt. Das haben wir die Jahre zuvor untersagt (Zeugen Jehovas feiern keine Feste wie Ostern, Weihnachten oder Geburtstage). Unser Sohn sollte dafür Steine bemalen. Wir fragten ihn beim Essen, ob es ihm Spaß machen würde, mit seinen Freunden Eier anzumalen. Er wurde rot im Gesicht, schaute verlegen runter und sagte:
„Nein, das macht mir keinen Spaß!“. Meine Frau und ich sahen uns an und hatten Tränen in den Augen, weil er nur das wiedergab, was wir von ihm hören wollten. Er antwortete nicht so, wie er wirklich empfand.

Wenn bei einem Fünfjährigen bereits solch ein Prozess stattgefunden hat, dann kann man sich vorstellen, wie tief verwurzelt diese Überzeugung bei einem Jugendlichen sein muss.

Einige Wochen nach unserem Schritt war meine Frau zum Entwicklungsgespräch unseres älteren Sohnes in der Kita eingeladen. Den Erziehern sind Veränderungen bei unserem Sohn aufgefallen. Er war deutlich offener, integrierte sich mehr in die Gruppe und in die Aktivitäten der Kita. Auch wir haben das Gefühl, dass er sich schon nach kurzer Zeit positiv verändert hat. Uns gegenüber ist er ebenfalls viel offener, er wirkt gelöster und befreit. Das mag einfach ein rein subjektives Gefühl sein. Vielleicht reden wir uns das auch nur ein. Aber ich denke, dass Kinder und Jugendliche, die mit einem Mal nicht mehr den Konfrontationen durch das Einhalten der WTG-Richtlinien ausgesetzt sind, viel freier in ihrem Umfeld agieren können.

Seinen ersten „echten“ Geburtstag hat unser Großer mit seinen Freunden aus der Kita und der Nachbarschaft sehr genossen. Auch unser erstes Osterfest haben wir gemeinsam mit der Familie meiner Frau gefeiert.

Für mich ist dies alles noch recht ungewohnt. Ich kann mich nur vage an die Zeit erinnern, wie ich mit meinen Eltern diese Feste gefeiert habe. Jetzt, mit 32 Jahren, muss ich mich tatsächlich erst einmal dran gewöhnen.

Für meine Kinder freue ich mich riesig, dass sie frei im Denken aufwachsen werden. Dass sie selbst entscheiden dürfen, woran sie glauben, ohne dass es Konsequenzen hat. Egal zu welchem Geschlecht sie sich hingezogen fühlen, ich kann erleben, wie sie mit ihrem Partner glücklich werden. Sie dürfen mit jedem Menschen, den sie in ihrem Leben treffen und mögen, engen Umgang haben. Sie dürfen sämtliche Feste feiern. Sie werden bald ihren ersten Weihnachtsbaum schmücken. Für dich klingt das wahrscheinlich wie das normale Leben.
Für mich ist es ein völlig neues Leben.

Doch wie ich bereits erwähnte, gibt es auch Schattenseiten. Wir haben an einem einzigen Tag alle unsere Freunde verloren sowie meine Mutter und meinen Stiefvater. Der „beste Freund“, die „beste Freundin“ gibt es erstmal nicht mehr. Freundschaften, die sich über Jahre aufgebaut haben, existieren mit einem Mal nicht mehr. Und wenn man Freunden auf der Straße begegnet, werden sie einen Gruß wahrscheinlich nicht erwidern.

Während wir damals Schritte unternommen haben, um die Organisation zu verlassen, habe ich immer wieder gegenüber meiner Frau betont, wie schwer dieser Prozess werden wird. Ich hatte große Angst davor, dass wir in ein Loch fallen würden und der Verlust unserer Freunde uns psychisch enorm belasten würde.

Wie schwer dieser Prozess wird, hängt meiner Meinung nach maßgeblich davon ab, ob man Menschen um sich herum hat, die einen auffangen. In der Regel gibt es da niemanden oder nur sehr wenige. Man wird als Zeuge Jehovas darauf getrimmt, den Umgang mit den Menschen in der „Welt“ auf ein Minimum zurückzuschrauben. Die familiären Verzweigungen und Kontakte im Leben vieler unserer Freunde sind so fest mit der WTG verwurzelt, dass ich mir einen Austritt ihrerseits kaum vorstellen kann. Der eine oder andere müsste zusätzlich sogar sein berufliches Leben auf neue Füße stellen.

Meine Frau und ich waren in dieser Hinsicht eher liberal. Wir hatten Kontakt zu Menschen, die keine Zeugen Jehovas waren, mit denen wir auch die Freizeit verbrachten. Es gab natürlich eine gewisse Grenze, die wir nicht überschritten. Daher waren es nie wirklich enge Freundschaften, die sich aufbauen konnten. Diese Grenzen haben sich nun aufgelöst und behindern uns nicht mehr dabei, Menschen an uns heran zu lassen. Dabei merkt man, dass die „Welt“, vor der man immer gewarnt wurde, doch gar nicht so schlecht ist. Es gibt so viele wunderbare Menschen, oder wie es ein ehemaliger Assistent der „Leitenden Körperschaft“ (mittlerweile kein Zeuge Jehovas mehr) ausdrückte: „Es gibt eine wunderbare Vielfalt da ‚draußen'“.

Wir haben das große Glück, dass wir eine Familie haben, die für uns da ist. Meine Schwiegereltern sowie mein Schwager und dessen Frau waren eine große Hilfe für den Neustart. Wir haben auch Freunde gefunden, mit denen wir damals als Zeugen Jehovas die Bibel studiert hatten. Heute blicken wir gemeinsam auf die Zeit zurück und sind froh, dass sie sich damals nicht dieser Organisation angeschlossen haben.

Einige Wochen nach unserem Austritt hatte ich eine interessante Begegnung mit einem Freund aus dem Fitnessstudio. Wir kannten uns bereits seit zwei Jahren. Ab und zu fragte er mich, ob wir nicht mal gemeinsam etwas unternehmen könnten. Ich hielt ihn aber immer auf Distanz. Ein einziges Mal war er bei sportlichen Aktivitäten unter Zeugen Jehovas dabei, zu denen ich ihn eingeladen hatte. Meinen Freunden hatte ich damals versichert, dass er ganz nett sei und keine „Gefahr“ darstelle.

Als ich ihn also auf der Straße traf, erklärte ich ihm meine aktuelle Situation. Ich erzählte ihm, dass ich ein Zeuge Jehovas war und nun meine Freunde, die er kennengelernt hatte, verloren habe. Er unterbrach mich und meinte, er wisse, was ich da durch mache. Er ist selbst 18 Jahre bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen und hat dann die Organisation verlassen. Seine Eltern sind bis heute noch dabei. Wir sprachen darüber, was ihn damals dazu bewegt hatte, diesen Schritt zu unternehmen. Ich erkannte vieles von seinen Überlegungen bei mir wieder. Er verstand nun auch, warum ich immer so distanziert gewesen war. Diese Begegnung, dieser Moment, hat mir sehr viel gegeben.

Ich habe auch Kontakt zu einem ehemaligen Assistenten der „Leitenden Körperschaft“ aufgenommen. Er selbst hat elf Jahre (1995 – 2006) in der Hauptzentrale in Brooklyn verbracht und war davon neun Jahre lang der persönliche Begleiter von Mitgliedern des Leitungsgremiums (Karl Klein und Lyman Swingle). Neben den ernüchternen Informationen über die „Leitende Körperschaft“ ist seine persönliche Geschichte wirklich herzergreifend. Er selbst hat seine Gefühle jahrelang unterdrückt und gedacht, sein Aufenthalt in der Hauptzentrale würde ihm helfen, seine homosexuellen Neigungen zu „bekämpfen“. Als er später aus dem Albtraum erwachte, kam er zu folgendem Schluss:

Zum ersten Mal dachte ich, dass dieser intelligente Schöpfer nicht wollte, dass ich aufgrund meiner Veranlagung zugrunde gehe. […] Es ist ein schwerwiegendes Erlebnis, aufzuwachen und all das durchzustehen, was dann kommt, wenn man merkt, dass das eigene Leben eine Lüge war.

Mit 30 Jahren hat er angefangen zu leben. Heute wohnt er gemeinsam mit seinem Ehemann in der Nähe von Manhattan. Er und sein Mann haben mittlerweile Zwillinge adoptiert und sind heute eine glückliche Familie. Er hat mir und meiner Familie seine Unterstützung angeboten, wenn es mal schwer wird. Ein Gedanke, den er mir persönlich mitgab, hat mich besonders berührt:

Vieles von dem, was wir in dieser Religion gelernt haben, ist zutiefst voreingenommen und gefärbt, und wir müssen diese Weltanschauung zunächst verlernen, um dann zu lernen, als Einzelpersonen gesund voranzukommen. Ich wünsche dir alles Gute auf deiner Reise.

Aufzuwachen und zu verstehen, dass bis hierher alles eine Lüge war, ist ein Prozess, den jeder Zeuge Jehovas, der aus seinem Gefängnis ausbricht, erst einmal durchmachen muss. Die Ideologie, der man sein Leben gewidmet hat, ist mit einem Mal verschwunden. Man hat daran geglaubt, dass Gott irgendwann auf der Erde eingreifen wird, für bessere Verhältnisse sorgen wird. Wir glaubten, wir würden ewig leben. Auch diesen Verlust muss man zunächst verarbeiten. Und dann muss man sich neu ordnen und den Sinn des Lebens für sich völlig neu definieren.

Woran ich heute glaube? Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß es einfach nicht abschließend. Das ist auch erstmal nicht wichtig. Im Fokus steht jetzt die Familie. Als Zeuge Jehovas denkst du oft nur daran, dass du das Leben in der „Neuen Welt“ erst wirklich genießen kannst. Daher legt die WTG großen Wert darauf, dass man sehr viel Zeit für die Organisation investiert, um dieses Leben in der „Neuen Welt“, so wird es suggeriert, auch zu erreichen. Uns ist nun klar, dass das wirkliche Leben jetzt stattfindet, und das ist ein unbeschreiblicher Gewinn. Wir versuchen dieses Leben für uns und unsere Kinder so schön wie möglich zu gestalten. Wir wollen jede Sekunde des Lebens gemeinsam genießen. Nichts davon kommt zurück oder kann irgendwohin mitgenommen werden. Und wenn meine Frau und ich einmal nicht mehr da sind, dann lebt das, was wir unseren Kindern mitgegeben haben, durch sie weiter.


Ich muss aber fairerweise sagen, dass ein Leben als Zeuge Jehovas keinesfalls schlecht ist. Wir selbst hatten auch kein schlechtes Leben. Wir haben nicht gelitten, hatten wunderbare Freundschaften, viele liebe Menschen um uns herum gehabt, und auch Kinder können, obwohl sie in vielen Dingen eingeschränkt sind und oft in ihrem Leben Konfrontationen mit Gleichaltrigen ausgesetzt sind, ein glückliches Leben und eine glückliche Kindheit verbringen. Eltern von Zeugen Jehovas wollen auch nur das Beste für ihre Kinder. Und solange das eigene Kind keine Bluttransfusion benötigt, um weiterleben zu können, oder das eigene (getaufte) Kind niemals auf den Gedanken kommt, aus der Organisation auszutreten, oder das eigene Kind heterosexuell ist, solange hat man keine Probleme als ein Zeuge Jehovas.

Wir hätten beinahe den Rest unseres Lebens darin verbracht und hätten auch unsere Kinder darin erzogen. Und ich behaupte, es wäre kein schlechtes Leben gewesen.

Doch die Dinge, die wir erfuhren, ließen uns keine Wahl. Unser Gewissen hat es nicht zugelassen, weiterhin dieser Organisation anzugehören. Ich habe sehr oft in Gedanken durchgespielt, wie ich dieses Leben in der Organisation weiter hätte führen können.
„Einfach Augen zu und durch, dadurch bliebe uns viel erspart“, dachte ich. Doch dann kam ich zu dem Schluss, dass ich mein Problem und die Konsequenzen, die meine Frau und ich erleiden müssten, nur auf unsere Kinder abwälzen würde. Ich dachte darüber nach, was wäre, wenn meine Kinder später genau in die gleiche Situation kommen würden, in der ich nun bin. Dann hätte ich sie aus rein egoistischen Beweggründen selbst in diese Situation hinein manövriert. Das konnte ich nicht.

Ein sehr besonderer Mensch schrieb einmal:

Der Stimme des Gewissens zu folgen, fällt den meisten wohl nicht schwer, aber eben nur solange, wie es sich um kleinere Dinge handelt. Sobald es um mehr geht und der Preis ansteigt, der für ein gutes Gewissen zu zahlen ist, wird es schon schwerer, Gewissenskonflikte durchzustehen und dann die Konsequenzen zu tragen. Handelt es sich um sehr weitreichende Konsequenzen, so stehen wir vor einer Grundsatzentscheidung.R. V. F.

Wir haben eine Entscheidung getroffen. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Und ich bin davon überzeugt, dass dies eine der besten Entscheidungen meines Lebens war!

Ende

Epilog

Wenn du ein aktiver Zeuge Jehovas bist und bis hierhin alles gelesen hast, dann beeindruckt mich das. Ich habe keine Ahnung, wie du jetzt fühlst. Ob du vielleicht innerlich vieles verteidigst, erste Zweifel kamen oder deine Zweifel, die du bisher hattest, bestätigt wurden. In jedem Fall hast du dich, entgegen den Richtlinien der WTG, bei einem Ehemaligen informiert. In den meisten Fällen werden Zeugen Jehovas diese Webseite gar nicht erst öffnen oder nach dem ersten Absatz schließen.

Was deine Beweggründe betrifft, so bist du vielleicht ein besorgter Familienvater oder eine besorgte Mutter. Dir liegen deine Kinder sehr am Herzen, und du möchtest sie um alles in der Welt schützen. Oder du bist ein Freund, der wissen möchte, wie es uns geht. Vielleicht hast du auch einfach mit Zweifeln zu kämpfen. Was es auch war, das dich hergeführt hat, es mag sein, dass dich die Informationen aufgewühlt haben. Denke in Ruhe über alles nach und treffe keine voreiligen Entscheidungen. Mach dir vor allem selbst ein Bild. Forsche nach und ziehe dabei verschiedene Quellen zurate. Verlasse dich nicht allein auf meine Aussagen. Denn das wird dir nicht helfen. Ich wollte dir nur einen Impuls geben, du musst dich selbst auf die Suche machen.

Ich hatte dir versprochen, keinerlei Quellen von „Abtrünnigen“ im Text zu verwenden. Bis hierhin sollte ich das eingehalten haben. Eine Quelle muss ich zum Abschluss jedoch erwähnen.

Ich möchte dich auf die Webseite silentlambs.org aufmerksam machen. Silentlambs wurde im Jahr 2001 von William Bowen gegründet – Wikipedia. William Bowen war 15 Jahre lang Ältester und zwei Jahre lang in der Druckerei in Brooklyn tätig. Mit seiner gemeinnützigen Organisation hat er eine Anlaufstelle für Zeugen Jehovas geschaffen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden sind und keinerlei Hilfe erfuhren. Es sollen sich bisher mehr als 5.000 Personen an die Organisation gewandt haben.

William Bowen bekam von drei verschieden Quellen, die behaupteten, dass sie Verbindungen zur Hauptzentrale der Zeugen Jehovas in Brooklyn haben, Informationen über eine Datenbank mitgeteilt, in der Aufzeichnungen von 23.720 Kinderschändern gespeichert sein sollen, die zum großen Teil nicht an die Behörden weitergegeben worden sind (NY Times, silentlambs, BBC).

Die Informationen, die die Royal Commission über die Datenbank in Australien zu Tage gefördert hat, bekräftigen seine Quellen.

Bowen erklärt auf seiner Webseite, dass es sich bei den dokumentierten Tätern eventuell nur um Personen handelt, bei denen die Täter entweder gestanden haben oder durch die Zwei-Zeugen-Regel „entlarvt“ wurden. Von den mehr als 23.000 Tätern ausgehend – die Dunkelziffer nicht berücksichtigt – würde dies bedeuten, dass es rein statistisch in jeder 4. Versammlung einen Sexualstraftäter gibt.


Danke

Ich möchte mich gerne bei einigen Menschen bedanken, die mich und meine Familie direkt und indirekt unterstützt haben.

In erster Linie möchte ich mich bei meiner Frau bedanken, die mit mir gemeinsam diesen schweren Schritt gegangen ist. Ohne sie hätte es kein „Happy End“ gegeben. Ohne ihren Zuspruch und ohne Rückendeckung wäre ich nicht in der Lage gewesen diese Zeilen zu veröffentlichen.

Des Weiteren möchte ich mich bei meiner Familie bedanken: Meine Schwiegereltern Bernd und Kirsten sowie mein Schwager Steffen und dessen Frau Vanessa. Vielen Dank, dass ihr uns aufgefangen habt.

Vielen Dank an Stefanie Jost für die Übersetzungshilfe. Danke an Sebastian Leber und Amir El-Ghussein für das Redigieren meines Textes.

Danke an alle Arbeitskollegen, Freunde und Nachbarn, die uns dabei geholfen haben und weiterhin eine große Hilfe sind im neuen Lebensabschnitt Fuß zu fassen.