Case study 54

Aufgrund der schwerwiegenden und systematischen Versäumnisse seitens der Watchtower Australia führte die Royal Commission ihre Untersuchungen im März 2017 fort. Angehört wurden Terrence O’Brien (derzeitiger Direktor der Watchtower Bible & Tract Society of Australia) und Rodney Spinks (Rechtsanwalt und Leiter der Rechtsabteilung der Watchtower Bible & Tract Society of Australia). Zur Anhörung wurde auch ein Mitglied der „Leitenden Körperschaft“ eingeladen. Dies wurde jedoch am 31. Januar 2017 seitens der Watchtower Australia abgelehnt.

Die Royal Commission prüfte, inwieweit die Watchtower Australia und damit verbunden auch die Wachtturm-Gesellschaft (WTG) in den letzten zwei Jahren Veränderungen vorgenommen haben, um die erkannten Probleme im Umgang mit Kindesmissbrauch in den Griff zu bekommen.

Es wurden unter anderem zwei Dokumente der WTG näher untersucht, die im Nachgang zur Case study 29 veröffentlicht wurden. Eines der Dokumente richtete sich an alle Ältesten weltweit (1. August 2016).

Dieser Brief liegt mir vor und war Gegenstand der Anhörungen. Zusammenfassend konnte ich für mich feststellen, dass sich nur eine Anweisung wirklich grundlegend verändert hat. Die Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Erörterung des geistigen und emotionalen Zustandes des Opfers ist entfallen. Ansonsten hat sich aus meiner Sicht zum Schutz der Kinder nicht wirklich etwas verändert.

Zum Ende des Briefes hieß es:

Es ist unbedingt erforderlich, euch bei jedem Fall von Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch, von dem ihr Kenntnis erhaltet, an die Anweisungen in diesem Brief zu halten. Es dient zur Wahrung der Heiligkeit des Namens Jehovas und zum Schutz von Minderjährigen.
Brief vom 1. August 2016 an alle Ältesten

Folgende Anweisungen dienen also zum Schutz:

  • Auf Hilfe durch einen Psychotherapeuten wird nicht hingewiesen. Nur auf Anfrage wird einem Opfer mitgeteilt, dass es seine Entscheidung sei, sich von einem Therapeuten helfen zu lassen.
  • Eine Meldung an die Behörden wird dem Opfer bzw. dessen Eltern überlassen. Nur wenn es gesetzlich vorgeschrieben ist, wird eine Meldung bei den Behörden gemacht (In Deutschland gibt es keine generelle Anzeigepflicht).
  • Eine Empfehlung zur Meldung an Behörden wird gemäß Anweisungen nicht ausgesprochen.
  • Nur wenn „ausreichend biblisch begründete Beweise vorhanden“ sind (Zwei-Zeugen-Regel), wird ein Rechtskomitee (interne Gerichtsbarkeit) gebildet, ansonsten gilt der mutmaßliche Täter als unschuldig und verbleibt weiterhin in der Gemeinde.
  • Bei einem Wechsel der Versammlung werden Informationen über einen mutmaßlichen Täter nur dann weitergegeben, wenn „es rechtliche Hinweise von der Rechtsabteilung und Anweisungen von der Dienstabteilung“ gibt.
  • Informationen über einen Täter, der seine Tat gestanden hat, werden nicht an die Mitglieder der Versammlung weitergegeben. Es wird nur eine „öffentliche Zurechtweisung“ ausgesprochen. Die Gründe werden allerdings nicht bekanntgegeben. Es könnte sich auch um einen Raucher handeln.

Wie Anklagevertreter A. Stewart ebenfalls feststellte, werden die Informationen aus dem Brief nicht den allgemeinen Mitgliedern zur Verfügung gestellt (Seite 16, ab Zeile 6).

Ich nehme an, dass vielen Zeugen Jehovas, wie die Vergangenheit gezeigt hat, nicht klar ist, dass sie in einem Fall von Kindesmissbrauch gerichtlich gegen einen anderen Zeugen Jehovas vorgehen „dürfen“. Diese Informationen werden nur auf Anfrage herausgegeben. Dadurch soll aus meiner Sicht anscheinend unterbunden werden, dass Opfer früherer Straftaten nun plötzlich Anzeige erstatten.

Die Zeugenaussagen, die in der Case study 29 festgehalten wurden, sowohl von Missbrauchsopfern als auch von aktiven Ältesten, zeigen, dass in erster Linie versucht wird, die Organisation nicht in den Schmutz zu ziehen – oder wie es intern heißt, den Namen Gottes nicht zu beschmutzen.

Beispielhaft ist hier die Aussage des Ältesten Joseph Bello. Er wurde angehört, da er Aussagen zu einem Missbrauchsopfer vor der Kommission tätigen sollte, in dessen Fall er als Ältester involviert war. Joseph Bello gab in den Anhörungen zu Protokoll, dass er darüber informiert wurde, dass das Missbrauchsopfer sich an die Royal Commission wenden wollte. Daraufhin sprach er mit dem Ehemann des Missbrauchsopfer und sagte ihm, „dass es nichts bewirken würde, außer den Namen Jehovas in den Schmutz zu ziehen“ – Transcript (Day 148): 28 July – Seite 37, ab Zeile 11.

Anklagevertreter A. Stewart fragte ihn daraufhin:

Angus Stewart

Ich entnehme ihrem Glauben, dass Jehova ein liebender Gott ist?

Joseph Bello

Definitiv!

Angus Stewart

Würde Jehova dann nicht mehr um das Opfer besorgt sein als um seinen eigenen Namen?

Joseph Bello

Jehova wäre um das Opfer besorgt, aber er ist ebenfalls um seinen Namen besorgt, das sagen uns die Schriften.

Ist Gott – wenn es ihn denn gibt – nicht selbst in der Lage, seinen Namen zu schützen? Benötigt er die Hilfe von Menschen? Ein Kind dagegen kann sich selbst nicht schützen. Ein Kind bedarf der Hilfe von Menschen, denen es vertraut!


Lieber Ältester, ich spreche dich nun persönlich an. Gehe einmal in dich. Vielleicht denkst du auch an deine eigenen Kinder oder Enkel. Bisher bist du vielleicht davon ausgegangen, dass es sich bei den neuen Anweisungen vom 1. August 2016 um „Helleres Licht“ handelte.

Nun hast du jedoch feststellen können, dass der Brief vom 1. August 2016 als Beweisstück, zur Entlastung vor der Royal Commission, diente. Würdest du sagen, dass durch diesen Brief einschneidende Änderungen vorgenommen wurden?

  • Werden Kinder vor Tätern bzw. mutmaßlichen Tätern in den Versammlungen jetzt besser geschützt?
  • Wird aktiv für Aufklärung in der Organisation und bei den Mitgliedern gesorgt?
  • Gibt es andere Wege, die eingeschlagen werden dürfen, wenn der Missbrauch biblisch nicht bewiesen werden kann?
  • Bist du der Meinung, dass es sich hierbei um die bestmögliche Schutzvorkehrung handelt?
  • Oder macht es eher Sinn, Präventionsverfahren innerhalb der Organisation ins Leben zu rufen, wodurch dieses Thema professionell und unabhängig in Zusammenarbeit mit Behörden und Therapeuten betrachtet werden kann?

Anklagevertreter A. Stewart stellte mit Bezug zu den neuen Dokumenten folgendes fest (Seite 45, ab Zeile 9):

[…] Sie sehen, Mr Spinks, wir befinden uns wieder da, wo wir auch in der Case study 29 waren, und kämpfen mit genau dieser Position, denn es gibt so viele verschiedene widersprüchliche Dokumente, und wir erhalten Dokumente, die als Autorität ersetzt wurden und nun als aktuelle Vorgehensweise mitgeteilt werden.
Case study 54 – Seite 45, ab Zeile 9

Informationen zu den Untersuchungen seitens der Royal Commission sucht man auf der Webseite der WTG vergeblich. Zeugen Jehovas versuchen anscheinend, im Gegensatz zu anderen Institutionen, die untersucht wurden, das Thema auszusitzen. Einzig die Medien berichten über die Untersuchungen in Australien. Doch dabei handelt es sich dann wohl einfach nur um „Propaganda“, durch die „Jehovas Organisation“ angegriffen wird. Im Wachtturm (Studienausgabe) von Juli 2017 heißt es im Artikel Gewinne den Kampf um deine Gedanken:

Lass dich ’nicht schnell erschüttern‘ und von deinem ‚vernünftigen Denken abbringen‘, auch wenn Abtrünnige oder andere Betrüger scheinbar schwerwiegende Vorwürfe vorbringen — wie plausibel sie auch erscheinen.
Wachtturm, Juli 2017 (Studienausgabe)

Wenn es sich bei Zeugen Jehovas tatsächlich, wie sie selbst sagen, um die wahre Religion handelt, warum muss die WTG dann so sehr darum betteln, dass die Mitglieder nicht das Vertrauen verlieren?

Leider funktioniert diese Art von Indoktrination tatsächlich – millionenfach. Wenn ein Zeuge Jehovas, so wie ich, jahrelang, vielleicht über Jahrzehnte von der WTG erzählt bekommt, dass Medien vom Teufel gelenkt werden, um der Organisation zu schaden, dann glaubt man das – WTG. Schließlich hat man über Jahrzehnte gelernt, dass die WTG von Gott geleitet wird. Das sagt und schreibt die WTG schließlich immer wieder über sich selbst. Kritik liest und übt man nicht. Denn, „Rebellion gegenüber den Sklaven (Leitende Körperschaft) ist Rebellion gegen Gott“ – Wachtturm, 1. August 1956. Ein perfekter Plan! Eine perfekt funktionierende „Firewall“!

Australien war kein Einzelfall und wird es auch zukünftig nicht bleiben.