Schnelldurchlauf

1994: Meine Mutter und ich auf dem Weg zu einem Kongress der Zeugen Jehovas. Meine Mutter ließ sich an diesem Tag taufen.

1985 wurde ich als einziges Kind meiner Eltern in Berlin geboren. Als ich 5 Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Mit meiner Mutter zog ich aus Berlin-Friedrichshain in den Süden Berlins, nach Lankwitz. Ich kann mich kaum an diese Zeit erinnern. Wir waren mit einem Mal in einer anderen Wohnung, einem anderen Umfeld. Es hat nicht lange gedauert, dann hat sich meine Mutter regelmäßig mit Zeugen Jehovas getroffen. Im April 1994 hat sie sich als eine Zeugin Jehovas taufen lassen. Mich hat sie, seit sie mit dieser Religionsgemeinschaft in Kontakt getreten ist, in diesem Glauben erzogen. 1996 hat meine Mutter einen Zeugen Jehovas geheiratet. Von da an waren wir zu dritt.

Als Zeuge Jehovas habe ich nicht nur an den Türen der Menschen geklingelt, sondern auch auf öffentlichen Plätzen mit sogenannten Trolleys gestanden.

Ich würde sagen, dass ich „fest in der Wahrheit“ stand, wie man das bei Zeugen Jehovas nennt. Ich war zwar als Kind und Jugendlicher nicht gerade einfach, aber ich habe fest an Jehova und Harmagedon (das kurz bevorstehende Ende der bösen „Welt“) geglaubt. Mit 16 Jahren ließ ich mich als ein Zeuge Jehovas taufen (2001). Einen Monat darauf habe ich das erste Mal den Hilfspionierdienst geleistet. Das tat ich öfter. Nach meiner Taufe verging nicht ein Monat, ohne dass ich an den Türen der Menschen klingelte – zumindest in der Zeit, in der ich ein aktiver Zeuge Jehovas war.

Zu zweit

Am 17. April 2004 lernte ich meine jetzige Ehefrau kennen. Sie war zu dieser Zeit keine Zeugin Jehovas. Die Wachtturm-Gesellschaft (die organisatorische Zentraleinrichtung der Zeugen Jehovas, nachfolgend WTG genannt) stellt es als „Ungehorsam gegenüber Gott“ dar, wenn man mit jemandem zusammen ist oder gar die Ehe mit einer Person erwägt, die kein Zeuge Jehovas ist – WTG. Ich verliebte mich aber. Das verursachte irgendwann Probleme. Denn wir lebten zusammen, mit allem, was dazugehört.

Ich ging kaum noch zu den Versammlungen (Gemeindetreffen). Nach kurzer Zeit riefen die Ältesten (Gemeindeaufseher) an, und ich „stellte mich“. Ein Rechtskomitee (hierbei handelt es sich um eine interne Gerichtsbarkeit, die von drei Ältesten der Gemeinde gebildet wird) machte mir klar, dass ich mich zwischen meiner Freundin und dem damit verbundenen Lebensstil oder der Organisation entscheiden müsse. Ich entschied mich für meine Freundin. Es folgte der Ausschluss aus der Gemeinschaft (Kontaktabbruch). Mein Glaube blieb mir aber erhalten (Juni 2004).

Im Laufe der Zeit kam meine Freundin mit den Publikationen der WTG in Berührung, die in meiner Wohnung herum lagen. Wir sprachen daraufhin sehr viel über meinen Glauben. Sie befand sich auf Grund persönlicher Umstände in einer schweren Phase ihres Lebens und schöpfte aus den Publikationen Kraft. Sie gaben ihr Hoffnung. Sie fing daher an, mit einer Zeugin Jehovas die Bibel zu studieren. Ich selbst hatte den Wunsch, wieder zur Organisation zurückzukommen, da ich meine Freunde sowie meine Familie vermisste und weiterhin von den Glaubenslehren der WTG überzeugt war. Vor allem aber hatte ich Angst davor, in Harmagedon umzukommen, da ich nicht zur Gemeinschaft dazugehörte.

Solange meine Frau und ich unverheiratet zusammen blieben, wäre eine Rückkehr ausgeschlossen. Daher haben wir im Juli 2005 geheiratet. Doch dies allein genügte nicht. Ich musste für einige Monate regelmäßig die Versammlung besuchen. Wir saßen dabei in den hinteren Reihen. Keiner durfte mit mir sprechen oder mich begrüßen. Für meine Frau war es nicht leicht. Sie fand dadurch kaum Anschluss zur Versammlung. Im Frühling 2006 wurde ich, nachdem ich meinen Aufnahmeantrag verfasst hatte, wieder als ein Zeuge Jehovas in der Organisation aufgenommen. Am selben Tag haben wir mit meinen „alten“ Freunden einen wunderbaren Abend verbracht. Meine Frau und ich haben es sehr genossen.

„Karriere“

TV-Bericht WDR: Wie sich die Zeugen Jehovas organisieren, Länge: 02:10 Min.

Von da an machten wir „Fortschritte“. Mit der Zeit habe ich immer mehr „Vorrechte“ in der Organisation erhalten. Meine Frau war rund drei Jahre lang als Allgemeiner Pionier tätig. Ich selbst wurde im Sommer 2010 zum Dienstamtgehilfen ernannt (eine Stufe vor dem Ältesten).

Zu diesem Zeitpunkt meldete sich unser erster Sohn an, der im April 2011 zur Welt kam. Wir erzogen ihn von Anfang an in unserem Glauben. Das ist einfach so. Man ist schließlich zu 100% überzeugt, dass dieser Glaube der richtige ist. Und das Richtige will man auch seinen Kindern weitergeben.

Es war eine schöne Zeit. Viele unserer Freunde haben ebenfalls Kinder bekommen, und wir waren froh, dass unser Sohn in der Versammlung später nicht alleine sein würde. Im November 2013 kam unser zweiter Sohn zur Welt.

Ich erinnere mich, dass von da an alles schwerer wurde. Mein Amt in der Versammlung und die damit verbundenen Aufgaben, der Predigtdienst (Missionstätigkeit), die wöchentlichen Besuche der Versammlung, die Familie, die Arbeit. Alles unter einen Hut zu bringen, war nicht einfach. Irgendwas schleifte immer. Ich muss zugeben, dass ich daran zum Teil auch selbst „Schuld“ war, da ich ein Mensch bin, der sehr neugierig ist und viel ausprobiert und dadurch auch verschiedene Hobbys hat.

Mit der Zeit kam es deswegen immer wieder zu Gesprächen mit den Ältesten. Dabei drehte es sich insbesondere darum, dass ich monatlich nicht die Anzahl an Stunden im Predigtdienst erreichte, die ein Dienstamtgehilfe aufbringen sollte. Die Gespräche halfen nichts. Daher schrieb ich Monat für Monat die Anzahl an Stunden auf, die nötig waren, um den Gesprächen aus dem Weg zu gehen.

Als auf einem Kongress einmal ein Kreisaufseher (hohes Tier) erzählte, dass er als Jugendlicher ebenfalls seinen Bericht fälschte, ging’s mir erstmal besser 🙂

Zwischenzeitlich wurde ich in unserer Versammlung zum Literaturdiener ernannt. Seine Aufgaben bestehen darin, Publikationen für eine Versammlung bei der zugehörigen Zweigstelle von Zeugen Jehovas zu bestellen und zu verwalten. 2015 erhielt ich außerdem das „Vorrecht“, einen öffentlichen Vortrag auszuarbeiten. Öffentliche Vorträge dauern in der Regel 30 Minuten und werden meist nur von Ältesten gehalten. Hat man einen Vortrag ausgearbeitet, kann man von verschiedenen Versammlungen aus der näheren Umgebung eingeladen werden, diesen zu halten. Bei der Ausarbeitung sollte man sich sehr eng an die Disposition sowie die vorgegebenen Quellen halten, die von der WTG zur Verfügung gestellt werden. Meinen Vortrag hielt ich insgesamt fünf Mal.

Meine Frau und ich auf der Leinwand beim Kongress im Oktober 2015.

Erste Zweifel

Jetzt muss ich nochmal in das Jahr 2008 zurückspringen. Dort kam ich im Internet zum ersten Mal mit kritischen Informationen zur WTG in Kontakt, die mich in meinem Glauben erschütterten. Normalerweise befasst sich ein Zeuge Jehovas nicht mit Informationen von „Abtrünnigen“. Die WTG sorgt mit ihren Publikationen dafür, dass sich ein Zeuge Jehovas mit der Zeit eine Art Firewall aneignet. Diese „Firewall“ dient dazu, sämtliche Kritik, sogar ohne sie zu lesen, als „von Satan dem Teufel kommend“ zu bezeichnen. Unter IT-Experten würde man sagen, dass ausschließlich der Port der WTG geöffnet ist. Alle weiteren Informationen, die von außen versuchen einzudringen, werden blockiert.

Mich haben die Informationen, die ich las, kurzzeitig aus der Bahn geworfen. Doch Gespräche mit meiner Mutter, viel Zeit im Predigtdienst, das viele Lesen der Publikationen der WTG und die regelmäßigen Besuche der Versammlung halfen mir zunächst, darüber hinwegzukommen und die Dinge zu verdrängen. Aber sie kamen immer wieder hoch und ließen mich nicht los.

Unsere Söhne wuchsen heran, und damit kamen Gefühle und Überlegungen auf, die ich vorher nicht kannte. Der Umstand, dass ich Vater wurde, veränderte komplett meinen Blickwinkel. Ich dachte beispielsweise darüber nach, was wäre, wenn meine Kinder Blut benötigen würden.

In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Vorfällen, bei denen Kinder von Zeugen Jehovas aufgrund fehlender Bluttransfusionen ihr Leben verloren.

Erwachet! vom 22. Mai 1994: „Jugendliche, die Gott den Vorrang geben“. Auf dem Cover sind 26 Kinder abgebildet. Bekannt ist, dass die drei Kinder im Vordergrund ihr Leben verloren haben, da sie eine Bluttransfusion verweigerten. In der Zeitschrift wird jeweils ihre Geschichte erzählt. Ob dies bei den anderen Kindern, die im Hintergrund abgebildet sind, ebenso der Fall war, ist nicht bekannt.

Es gibt zwar mittlerweile Blutersatzstoffe sowie Methoden, die selbst komplizierte Operationen ohne Fremdblut ermöglichen. Allerdings war ich mir – und meine Frau offenbarte es mir später ebenfalls – zu 100% sicher, dass ich im Notfall niemals meinen Kindern eine Bluttransfusion vorenthalten würde, wenn ihr Leben davon abhinge. Ich dachte mir: „Dann bin ich halt der Sünder, dann werde ich Harmagedon nicht überleben. Mein Kind kann nichts für die Entscheidung seiner Eltern“ Ich dachte mir, wenn nur zu 0,00001% die Möglichkeit bestand, dass dieser Glaube nicht der Richtige ist, dann reicht das, um meine Kinder am Leben zu lassen.

Ich machte mir auch Gedanken darüber, dass es vorkommen könnte, dass einer meiner Söhne später aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ausgeschlossen wird oder gar eigenständig die Organisation verlässt, nachdem er sich hat taufen lassen. In diesem Fall sollten Eltern den Kontakt zu ihrem Kind abbrechen, wenn es nicht mehr zu Hause wohnt.

Vielen, die Zeugen Jehovas nur von der Tür her kennen, ist nicht bewusst, welche Regeln es innerhalb der Organisation gibt, wenn Menschen diese verlassen möchten. Ich werde es dir gern erklären.

Es gibt zwei Arten, die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zu verlassen:

  1. Man begeht eine Sünde, nach der Interpretation der Zeugen Jehovas, und bereut diese nicht (Reueloser Sünder).
  2. Man verlässt, wie meine Frau und ich es taten, freiwillig die Organisation (Abtrünniger).

In beiden Fällen brechen Zeugen Jehovas in der Regel jeglichen Kontakt zu diesen Menschen ab. Das geht so weit, dass diese nicht einmal mehr gegrüßt werden. Das macht weder Halt vor dem besten Freund, der besten Freundin, noch vor den eigenen Kindern oder Eltern. Es sei denn, die Kinder sind minderjährig und wohnen noch zu Hause.

Was aber, wenn wir mit jemand, der ausgeschlossen werden musste, verwandt oder eng befreundet sind? Dann steht jetzt unsere Treue auf dem Prüfstand, und zwar nicht gegenüber dieser Person, sondern gegenüber unserem Gott. Jehova schaut nun darauf, ob wir uns an sein Gebot halten, keinen Kontakt mehr mit jemandem zu haben, der ausgeschlossen ist.
Wachtturm, 15. April 2012, S. 12

Wie das in der Realität aussehen kann, zeigt ein Video, herausgegeben von Zeugen Jehovas – Video. In diesem Video geht es um eine junge Frau, die nicht länger nach den Vorgaben der WTG leben möchte. Sie wird aus der Versammlung ausgeschlossen, und ihr Vater macht sie darauf aufmerksam, dass es besser wäre, wenn sie auszieht, da sie kein guter Umgang mehr für ihre leiblichen Geschwister ist. Als die Frau ihre Eltern nach einiger Zeit anruft, um ihre Stimmen zu hören, werden sie in dem Video als „standhaft“ dargestellt, da sie nicht ans Telefon gehen.

Zeugen Jehovas bezeichnen diese Kontaktsperre als „Liebevolle Vorkehrung“WTG. Dadurch soll erreicht werden, dass der „Sünder“ oder „Abtrünnige“ zur Besinnung und somit zurück in die Organisation kommt. Dies funktioniert jedoch nicht von heute auf morgen. Hierbei muss der Ehemalige einige Zeit regelmäßig in der Versammlung erscheinen. Dabei wird man von keinem der Anwesenden begrüßt oder sonst wie beachtet.


Ich persönlich hätte den Kontakt zu meinen Kindern nicht einfach abbrechen können, auch wenn sie nicht mehr zu Hause gewohnt hätten. Es sind meine Kinder! Sie nicht zu sehen, zu wissen, wie es ihnen geht, wäre, wie wenn ich die Luft anhielte. Das ginge nicht lange gut.

Auch wenn diese Fälle vielleicht nie eingetroffen wären, in meinem Herzen konnte ich den Anforderungen der WTG nicht nachkommen, sie nicht akzeptieren. Und ich könnte so auch meinen Kindern diese Dinge nicht vermitteln.

Mit diesen Gedanken musste ich sehr lange kämpfen. Mit meiner Frau sprach ich zunächst nicht darüber. Auch sie hatte diese Überlegungen. Wir hatten eigentlich schon immer ein gutes Verhältnis und konnten offen miteinander reden. Wir waren aber nicht in der Lage, über die tiefsten Dinge – die Zweifel – mit unserem Ehepartner zu sprechen. Wie sich später herausstellte, hatten wir ebenfalls große Sorge vor dem Moment, wenn die Schulzeit beginnt. Ich selbst kannte den Spießrutenlauf, den Kinder von Zeugen Jehovas in ihrem Erwachsenwerden mitunter durchmachen, nur zu gut.

Und dann kam der Tag, an dem sich meine „Firewall“ abgeschaltet hat. Es klingt für dich wahrscheinlich harmlos. Aber dieser Tag hat erst alles ins Rollen gebracht. Eine Zeugin hat mich 2016 in eine Facebook-Gruppe von Zeugen Jehovas eingeladen. Dort gab es einen Kommentar, bei dem sich eine „Glaubensschwester“ Sorgen machte, ob ihre Katzen (oder Hunde?) Harmagedon überleben würden. Daraufhin meldeten sich viele besorgte Tierbesitzer. Ich dachte mir, „was für ein Quatsch“. Aber ok, sie hatten eine enge Bindung zu ihren Tieren. Sie machten sich Mut durch die Geschichte über die Arche Noah: „Gott hat die Tiere damals gerettet, warum sollte er bei Harmagedon nicht auch dafür sorgen, dass unsere Haustiere überleben“. Nach einigem „Schöngerede“ folgte ein Kommentar einer „Schwester“: