„Gerichtsfälle unter Brüdern“

So lautet die Überschrift des Kapitels im Ältestenbuch, welches direkt auf das Kapitel Kindesmissbrauch folgt (Kapitel 12, ab Seite 133). Im ersten Absatz heißt es:

In 1. Korinther 6:1-8 rät Paulus eindringlich davon ab, Brüder wegen persönlicher Streitigkeiten, die mithilfe von Ältesten beigelegt werden sollten, vor Gericht zu bringen.
Hütet die Herde Gottes – 2010 (Herausgegeben von Zeugen Jehovas)

Einem Zeugen Jehovas wird in verschiedensten Publikationen der WTG immer wieder nahegelegt, dass man gegen einen anderen Zeugen Jehovas nicht gerichtlich vorgehen sollte. Oft wird dies mit Streitigkeiten, Betrug oder ähnlichen Problemen in Verbindung gebracht – (Bewahrt euch in Gottes Liebe – Anhang, S. 222-223 oder Wachtturm, 15. März 1997, S. 17-22, Wachtturm, 15. Oktober 1991, S. 25-28).

Im Wachtturm vom 1. November 1995 auf S. 28 heißt es allerdings:

Wenn sich ein Glied der Versammlung an die Ältesten wendet, weil ihm plötzliche Gedanken oder ‚verdrängte Erinnerungen‘ daran kommen, als Kind mißbraucht worden zu sein, werden normalerweise zwei der Ältesten beauftragt, Hilfe zu leisten. […] Was wäre, wenn sich der Betroffene zu einer Anzeige entschließt? Die beiden Ältesten sollten ihm dann raten, den Beschuldigten im Einklang mit dem Grundsatz aus Matthäus 18:15 selbst anzusprechen. […] Auf diese Weise kann sich der Angeklagte vor Jehova zu der Beschuldigung äußern. Vielleicht kann er sogar Beweise vorlegen, daß er den Mißbrauch nicht begangen haben kann. Es könnte auch sein, daß der Beschuldigte gesteht und es zu einer Aussöhnung kommt. Welch ein Segen das doch wäre!
Wachtturm, 1. November 1995, ab S. 28

Das Opfer soll den Täter also selbst auf die Tat ansprechen, damit dieser ihm eventuell Beweise vorlegen kann, dass er die Tat nicht begangen hat. An keiner Stelle wird erwähnt, dass es gut wäre, sich professionelle Hilfe zu suchen. Und was passiert, wenn der Beschuldigte alles abstreitet oder die Schuld dem Opfer anlastet? Das Einzige, was aus meiner Sicht hier vermittelt wurde, ist, dass es das Beste wäre, von einer Anzeige abzusehen.

Die Zeugenaussagen von Ältesten aus der Case study 29 bestätigen zudem, dass in der Vergangenheit versucht wurde, Opfer davon zu überzeugen, dass es besser wäre, sich nicht an die Behörden zu wenden, da dadurch nur der „Name Jehovas beschmutzt werden würde“.

Du denkst, dass es doch nicht sein kann, dass man sich davon leiten lässt? Du meinst, dass wenn die Ältesten die Behörden nicht einschalten, zumindest die Eltern dies tun würden? Dass im Real life alles anders läuft?

Kommen wir zum Abschlussbericht der Royal Commission.