Der Austritt

An einem Montagabend im März 2017 haben meine Frau und ich beschlossen, die Organisation der Zeugen Jehovas zu verlassen. Es war ein sonniger Tag mit angenehmer Temperatur. An diesem Tag habe ich ein letztes Mal etwas mit meinen Freunden unternommen. Wir waren mit einer größeren Gruppe gemeinsam auf einem Sportplatz und haben Flag-Football gespielt. Wir hatten eine Menge Spaß, und ich habe den lauen Märzabend mit zwei meiner engsten Freunde bei meinem Lieblings-Dönerladen ausklingen lassen. Eigentlich war es nichts besonderes. Aber wenn einem bewusst wird, dass deine Freunde dich in Zukunft meiden und dich als „Abtrünnigen“ bezeichnen werden, dann genießt man jede Sekunde mit ihnen.

Am Freitag darauf hatten wir unser gewohntes Gemeindetreffen. Diese Versammlungen fanden jede Woche freitags und sonntags statt und gingen in der Regel eine Stunde und 40 Minuten. Dass man einer Versammlung nicht beiwohnte, war eher die Ausnahme. An diesem Freitag besuchten wir unsere Versammlung jedoch ein letztes Mal. Meine Frau und ich waren alleine. Unsere Kinder haben wir bei den Eltern meiner Frau untergebracht. Meine Schwiegereltern sind selbst keine Zeugen Jehovas.

Der Weg zur Versammlung war für uns beide nicht leicht. Uns war bewusst, dass es nach diesem Abend kein Zurück mehr geben wird. Bevor die Versammlung begann, habe ich dem Aufseher der Ältesten mitgeteilt, dass ich von sämtlichen Ämtern und „Vorrechten“ zurücktreten wolle. Natürlich fragte er nach den Gründen. Da ich zu diesem Zeitpunkt bereits das Ältestenbuch gelesen hatte, wusste ich, wie ich reagieren müsste, um zunächst weiteren Nachfragen aus dem Weg zu gehen. Er teilte mir mit, dass sich zwei Älteste bei mir melden würden.

Unsere letzte Versammlung haben wir in einer der hinteren Reihen verbracht. Vom Programm selbst bekamen wir kaum etwas mit. Unsere Blicke schweiften durch die Versammlung, und wir beobachteten wehmütig unsere Freunde. Am Ende der Versammlung versuchten wir, viele unserer Freunde zu umarmen – ein letztes Mal. Sie selbst wussten nicht, dass es ein Abschied für immer war.

Am selben Abend sind wir zu den Eltern meiner Frau gefahren. Im Gegensatz zu vielen anderen, die die Organisation der Zeugen Jehovas verließen, hatten wir Menschen, die uns aufgefangen haben. Die uns verstanden und uns zuhörten. Meine Schwiegereltern waren überglücklich, dass wir diesen Schritt unternommen haben.

„Papa, werden wir jetzt ausgeschlossen?“

Am nächsten Tag (Samstag) kam der bereits angekündigte Anruf der Ältesten. Ich vereinbarte mit ihnen ein Treffen für Montag.

An diesem Samstag schien die Sonne, es war ein herrlicher Tag. Doch innerlich fühlten wir uns unwohl. Uns wurde immer mehr bewusst, welche Konsequenzen unsere Entscheidung nach sich ziehen würde. Wir mussten anfangen, das Gleichgewicht in unserem Leben wiederherzustellen und begannen damit, unserem fünfjährigen Sohn über unseren Schritt zu informieren. Im Vorfeld hatten wir bereits mehrfach darüber gesprochen, wie wir dabei vorgehen würden. Trotz aller Vorbereitungen wussten wir jedoch nicht, wie er darauf reagieren würde. Er tat es zunächst nicht mit Worten. Er war den Tag über sehr verschlossen und wirkte alles andere als glücklich.

Wir versuchten den Tag für ihn so angenehm wie möglich zu gestalten. Am Nachmittag war ich alleine mit ihm auf dem Spielplatz. Dort äußerte er seine ersten Überlegungen: „Papa, werden wir jetzt ausgeschlossen?“. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum er so schlussfolgerte. Wir haben nie mit ihm über so etwas gesprochen. Zudem sagte er mir, dass er seine Freunde vermissen werde. Das tat sehr weh. Und anscheinend hat er mehr mitbekommen, als wir dachten.

Am späten Nachmittag wollte mein Sohn mit mir unbedingt zu einem abgelegenen Bolzplatz fahren. Nur Wald und Wiesen, so weit man schauen kann. Die Sonne war gerade dabei unterzugehen. Ein einsames Tor auf einem Acker. Er hat so viel gelacht und einfach nur Spaß gehabt. Als wir mit dem Auto zurück fuhren, sagte er zu mir: „Papa, jetzt bin ich wieder glücklich“.

Am Sonntag, als wir wieder zu Hause waren, klingelte meine Mutter an unserer Tür, nachdem wir sie zu uns eingeladen hatten. Es war kein schönes Gespräch. Im Nachhinein bereue ich es, dass wir einfach nur gegenseitig unsere Argumente ausgetauscht haben. Sie verschwand sehr plötzlich, und ich habe seitdem keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Ich schrieb ihr noch eine Nachricht, in der ich ihr meine Gefühle ausgeschüttet habe und ihr zusicherte, dass sie sich jederzeit bei mir melden könne, wenn ihr danach ist.

Das Ältestengespräch

Am nächsten Tag besuchten uns, wie verabredet, zwei Älteste aus unserer Versammlung. Unsere Kinder schliefen bereits. Gleich zu Beginn war klar, in welche Richtung das Gespräch gehen würde. Die zwei wollten das Treffen mit einem Gebet einleiten, was ich jedoch freundlich ablehnte. Danach haben wir ihnen unsere Entscheidung mitgeteilt, dass wir die Organisation der Zeugen Jehovas verlassen werden. Wir sprachen unsere drei Hauptgründe an:

  1. Wir könnten unseren Kindern eine Bluttransfusion im Notfall nicht verweigern und würden ihnen daher auch keinen Blutausweis ausstellen, der Ärzte in Form einer Patientenverfügung informiert.
  2. Wir haben ein Problem mit dem Kontaktabbruch, vor allem innerhalb der Familie.
  3. Der Umgang mit Kindesmissbrauch innerhalb der Organisation schützt aus unserer Sicht nicht die Kinder, sondern die Täter.

Ich kann rückblickend sagen, dass es zwar kein einfaches Treffen war, doch trotz der Umstände war es ein sehr ruhiges Gespräch. Wir sind uns einander mit sehr viel Respekt begegnet. Es standen dennoch jedem von uns die Tränen in den Augen. Meine Frau und ich hatten das Gefühl, dass die zwei uns nicht loslassen wollten. Immer wieder haben sie gefragt, was das denn letztendlich bedeuten würde, obwohl wir dies bereits mehrfach geäußert hatten. Sie mussten auch zugeben, dass wir uns sehr intensiv mit dem Thema Kindesmissbrauch auseinandergesetzt haben und sie selbst gar nicht so tief über die Fälle unterrichtet waren. Sie haben auch nicht versucht das Thema irgendwie runter zu spielen, sondern mussten natürlich in vielen Dingen, wie der Zwei-Zeugen-Regel, zustimmen.

Ich fragte ganz direkt einen der Ältesten, ob man zu 100% ausschließen könne, dass es in unserer Versammlung oder einer Nachbar-Versammlung einen mutmaßlichen Pädophilen geben könnte, der aufgrund der Zwei-Zeugen-Regel nicht belangt werden könne.

„Ausschließen kann man das nicht“, war die Antwort.


Der Abschied war schwer. Wir haben uns sehr fest gedrückt, und uns allen liefen dabei die Tränen. Es fühlte sich so unmenschlich an, was da gerade passierte. Wir haben mehrfach betont, dass wir immer noch dieselben sind. Wir lieben alle unsere Freunde genauso wie zuvor. Wir haben einfach nur eine andere Meinung. Und dennoch ändert es nichts. Dass man uns in Zukunft meiden würde, war unausweichlich. Sie sagten uns, dass jederzeit die Türen offen stehen würden. Dass wir jederzeit zurückkommen könnten, wenn wir es möchten.

Der Abschied von unseren Freunden

Am darauf folgenden Freitag wurde unsere Entscheidung während der Versammlung öffentlich von der Bühne bekannt gegeben. Doch bis dahin haben wir die Zeit genutzt, um uns von unseren engsten Freunden zu verabschieden. Wir taten dies nicht persönlich, sondern per Text- oder Sprachnachricht. Wir wollten vermeiden, dass sie durch ein persönliches Gespräch direkt zu einer Reaktion gezwungen werden. Wir wussten, dass der eine oder andere Zeit benötigen würde, um darauf zu reagieren. Wir haben ihnen mitgeteilt, welchen Weg wir einschlagen werden, und haben jedem einzelnen noch ein paar persönliche Gedanken hinterlassen. Die Gründe für unsere Entscheidung behielten wir für uns. Jedoch hätte jeder diese Gründe von uns erfahren können, wenn er oder sie es wirklich gewollt hätte.

Einem Freund habe ich die Gründe allerdings persönlich mitgeteilt. Bei ihm war ich mir sicher, dass ich über alles reden kann. Manchmal bin ich mir unsicher, ob es richtig war, dass ich ihn mit den Gründen konfrontiert habe. Er war auf diese Situation in keinster Weise vorbereitet. Ich wollte zu diesem Zeitpunkt aber einfach mit einem Freund darüber sprechen. Dafür sind Freunde da. Und irgendwie habe ich bis zum Schluss daran geglaubt, dass Freundschaften bedingungslos sein können. Allerdings hängt jede Freundschaft bei den Zeugen Jehovas davon ab, dass man den Bedingungen der WTG gerecht wird.

Den Abschied von diesem Freund werde ich nie vergessen. Wir haben uns in den Armen gelegen und geweint. Nein, es war eher ein Schluchzen. Ungefähr so muss es sich anfühlen, wenn man sich von einem Freund verabschiedet, bei dem man weiß, dass er von einem geht. Wir wollten einfach nicht loslassen. Uns beiden war in diesem Moment wohl bewusst, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Als sich unsere Wege trennten, habe ich den ganzen Weg über den da oben – zumindest den, den ich durch die WTG kennengelernt habe – verflucht und ihn in meinem Herzen angeschrien. Die Wörter, die ich im Kopf hatte, waren nicht jugendfrei. Ich dachte mir, wie kann ein „Gott der Liebe“ eine Vorkehrung ins Leben rufen, um Freunde und Familie voneinander zu trennen, um wen auch immer vor irgendetwas zu schützen?!

Für meine Frau war der Abschied von ihren Freundinnen ein enormer Kraftakt. Ich denke, wenn sie selbst hier schreiben würde, könnte sie das deutlich besser wiedergeben. Ich war aber sehr froh darüber, dass sich alle ihre Freundinnen bei ihr zurückgemeldet und sich ebenfalls von ihr verabschiedet haben. Ich denke, das hat ihr geholfen, diesen Verlust besser zu verarbeiten. Eine ihrer engsten Freundinnen hat sich sehr viel Zeit gelassen mit einer Antwort. Zunächst hat sie ihr nur geschrieben. Doch ein paar Tage später hat sie meine Frau angerufen. Die beiden haben, wie mir meine Frau erzählte, sehr viel geweint und zum Ende kaum ein Wort mehr raus bringen können. Ihre Freundin sagte ihr, dass, sobald sie auflege, sie nichts mehr voneinander hören werden. Sie hatten eine sehr enge Bindung zueinander. Ich weiß, wie viel diese Freundin meiner Frau bedeutete. Von einem Tag auf den anderen war jedoch alles vorbei.

Nur weil sieben Männer, die keiner aus unserem Umfeld persönlich kennt, irgendeine Anweisung aus New York erteilen, gibt man den Kontakt und die Freundschaft zu den Menschen auf, die man seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten kennen und lieben gelernt hat.

Bis heute achten wir sehr darauf, dass kein Groll in uns aufkommt. Auch wenn es unheimlich weh tut, wenn Freunde und Familienangehörige uns meiden, uns auf sämtlichen Kanälen blockieren und auf der Straße nicht mehr grüßen, so wissen wir, aus welchen Beweggründen sie so reagieren. Uns ist bewusst, dass wir vor einiger Zeit vermutlich genauso gehandelt hätten. Für Außenstehende ist dies nur schwer nachvollziehbar. Für uns, die wir selbst einmal so eingeengt im Denken waren, ist dieses Verhalten verständlich.

Wir selbst waren nicht dabei, als in unserer Versammlung die Entscheidung von uns beiden bekannt gegeben wurde. Von der Bühne wird ein Ältester folgenden Satz vorgelesen haben: „Oliver und [Frau] Wolschke sind keine Zeugen Jehovas mehr“. Kurz und „schmerzlos“. Von da an galt es offiziell den Kontakt zu uns zu meiden für jeden Zeugen Jehovas. Nach der Bekanntgabe wurde es dann auch ziemlich schnell grau bei WhatsApp. Eine Vielzahl von Freunden hat uns nach und nach blockiert. Die darauffolgenden Tage ging es dann auch los, dass Freunde, die nicht aus unserer Gemeinde waren, uns blockierten. Es scheint die Runde gemacht zu haben.

Wir haben damit gerechnet, dennoch tat es weh. Das sollte es wohl auch. Wir nahmen und nehmen es aber niemandem übel. Jedoch haben uns die Reaktionen darin bestärkt, das Richtige getan zu haben.