„Einzelfall“?

Ich werde jetzt nicht in die Tiefe gehen, jedoch zwei Fälle kurz anschneiden sowie zukünftige Entwicklungen zu Untersuchungen und Gerichtsfällen aufzeigen.

Besonders hervorheben möchte ich den Fall von José Lopez.

José Lopez – USA

José Lopez gehörte der Versammlung im Großraum San Diego an. Er wurde von dem Zeugen Jehovas Gonzalo Campos in den Jahren von 1982 bis 1995 sexuell missbraucht. Unter Eid hat Campos zugegeben, sich an Kindern innerhalb der Organisation vergangen zu haben. 2012 ging Lopez gerichtlich gegen Campos vor. Doch nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen die WTG. Auf der Webseite des Kalifornischen Gerichts kann der Fall im Archiv eingesehen werden.

Jose Lopez vs Wachtturm Gesellschaft
José Lopez vs. Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc.

1986 hat Campos innerhalb eines Rechtskomitees den Missbrauch an José sowie einem weiteren Kind zugegeben. 1988 wurde er dennoch zum Dienstamtgehilfen und 1993 zum Ältesten ernannt. Campos hat mindestens 7 Kinder von 1982 bis 1995 sexuell missbraucht.

Irwin Zalkin, der Verteidiger von José Lopez, verlangte von der WTG die Herausgabe von Dokumenten, die seit 1997 im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch gesammelt wurden. Daraus wollte Zalkin ein Muster aufzeigen, wie mit sexuellem Missbrauch innerhalb der Organisation umgegangen wird. 2014 wurde die Herausgabe der Dokumente durch die Richterin Lewis angeordnet. Doch die WTG hat dies, sowie auch die weitere Zusammenarbeit mit dem Gericht, verweigert. Gerrit Lösch, ein Mitglied der „Leitenden Körperschaft“, hat die Aussage vor Gericht im Jahre 2014 ebenfalls verweigert und dies in einem dreiseitigen Schreiben begründet.

Erklaerung Gerrit Lösch Jose Lopez
Erklärung von Gerrit Lösch zum Nichterscheinen vor Gericht im Fall von José Lopez – Seite 1.
Erklärung Gerrit Lösch Jose Lopez Seite 2
Erklärung von Gerrit Lösch zum Nichterscheinen vor Gericht im Fall von José Lopez – Seite 2.
Erklärung Gerrit Lösch Jose Lopez Seite 3
Erklärung von Gerrit Lösch zum Nichterscheinen vor Gericht im Fall von José Lopez – Seite 3.

Im Schreiben argumentierte Lösch in den Punkten 8 und 9 wie folgt:

8. I am not, and never have been, a corporate officer, director, managing agent, member, or employee of Watchtower. I do not direct, and have never directed, the day-to-day operations of Watchtower. I do not answer to Watchtower. I do not have, and never have had, any authority as an individual to make or determine corporate policy for Watchtower or any department of Watchtower.
9. Watchtower does not have, and never has had, any authority over me.

Gerrit Lösch

Gerrit Lösch hat dem Schreiben nach augenscheinlich nichts mit der WTG zu tun und hat daher auf eine Stellungnahme vor Gericht verzichtet. Dass er Teil des Entscheidungsgremiums der Organisation war und bis heute ist, hat er anscheinend vergessen. Die Strategie ging nicht auf.

Das Gericht in San Diego hat die WTG zu einer Zahlung von 13,5 Millionen US-Dollar verurteilt. Bei dem Urteil handelte es sich um ein default judgment, was in Deutschland als Versäumnisurteil bekannt ist. Die vorsitzende Richterin Lewis entschied sich zu dieser außergewöhnlich hohen Geldstrafe aufgrund der fortgesetzten Weigerung seitens der WTG, die relevanten Dokumente herauszugeben. Auch die Aussageverweigerung von Gerrit Lösch hat zu diesem Urteil beigetragen – Bericht NBC San Diego.

In einem weiteren Fall hat die WTG Dokumente an Irwin Zalkin herausgegeben, jedoch unter dem Vorbehalt, dass er diese niemand anderem zugänglich machen dürfe. Die Dokumente umfassten jedoch nicht wie gefordert einen Zeitraum von 19 Jahren, sondern nur 4 Jahre. Zudem waren Ortschaften sowie Namen von Tätern geschwärzt. Der Richter ordnete daher an, dass die WTG täglich 4.000 USD Strafe zahlen müsse, bis sie den Forderungen nachkommen würde.

Aktuell führt Irwin Zalkin 18 Verfahren gegen die WTG wegen Kindesmissbrauchs.

Candace Conti – USA

Als Candace Conti 9 Jahre alt war, wurde sie, wie sie selbst vor Gericht angab, über zwei Jahre von einem „angesehenen“ Zeugen Jehovas aus ihrer Versammlung sexuell missbraucht. Alles fing damit an, dass sie mit Jonathan Kendrick alleine in den Predigtdienst ging. Im Anschluss nahm er Candace mit zu sich nach Hause, wo er sie mehrmals im Monat missbrauchte. Dass sie sich niemandem anvertraute, begründete sie damit, dass sie dadurch die einzigen Menschen, die sie kannte, zerstört hätte.

Da man als Zeuge Jehovas oft nur Freundschaften innerhalb der Gemeinschaft hat, gibt es in der Regel niemanden außerhalb, zu dem man ein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut hat – WTG.

Jahre später fand Candace in einem Register für Sexualstraftäter Jonathan Kendrick wieder –
Jonathan Kendrik im Sexualstrafregister von Kalifornien.

Er wurde dort gelistet, weil er ein weiteres Kind aus einer anderen Versammlung sexuell missbrauchte. Sie hat sich schuldig gefühlt, nichts unternommen zu haben. Daraufhin wandte sie sich an die Ältesten ihrer Versammlung. Es wurde kein
Rechtskomitee gebildet, da Candace keinen zweiten Zeugen benennen konnte. Daraufhin wandte sie sich an die Polizei. Diese begann mit den Untersuchungen, da Kendrick alles abstritt. Candace hat zudem auch die WTG verklagt.

Vor Gericht wurden die Ältesten der Versammlung angehört, und es kam zu einer erstaunlichen Entwicklung in diesem Fall (8. November 2011).

Der Anklagevertreter fragte einen der Ältesten:

Anklagevertreter

Erinnern Sie sich, zu irgendeiner Zeit Kenntnis gehabt zu haben, betreffend sexuellen Missbrauchs eines Kindes durch Jonathan Kendrick?

Ältester

Ähm… Ja!

Die Untersuchungen ergaben, dass die Ältesten bereits von Kendricks Neigungen wussten, bevor er sich an Candace Conti verging. Das erste bekannte Opfer von Kendrick war seine Stieftochter. Es wurde weder die Versammlung gewarnt, noch wurden die Behörden eingeschaltet.

Vor Gericht fragte der Anklagevertreter einen der Ältesten, warum die Versammlung nicht unterrichtet worden war.

Ältester

Das machen wir nicht … öffentlich in der Versammlung, … das ist vertraulich.

Das Gericht entschied zugunsten von Candace Conti und hat ihr mehr als 15 Millionen USD Entschädigung zugesprochen – Gerichtsunterlagen, Bericht der NY Times.

Im Jahr 2007 wurden 16 Prozesse in den USA gegen die WTG außergerichtlich durch Vergleiche beigelegt. Die Entschädigungszahlungen gingen in die Millionen. Die Gerichtsdokumente zu diesen Fällen liegen mir vor.

Vergleiche Zeugen Jehovas Kindesmissbrauch 2007
Bild 1: Texas Potter Cnty (1 Opfer), #91048C, Beschlossen 15.02.07
Bild 2: Oregon, Marion Cnty (1 Opfer), #06C15281, Beschlossen 14.02.07
Bild 3: California, Napa Cnty (2 Opfer), #2622191, Beschlossen 12.02.07
Bild 4: California, Napa (1 Opfer), #2623929, Beschlossen 13.02.07
Bild 6: California, Yolo (3 opfer), #CV031430, Beschlossen 02.03.07
Bild 7: California, San Diego (4 Opfer), #GIE034558, Beschlossen 26.02.2007
Bild 8: California, Tehama (1 Opfer), #52594, Beschlossen 13.02.07
Bild 9: California, Tehama (2 Opfer), #52598, Beschlossen 13.02.07

Lieber Zeuge Jehovas, wenn du das nächste Mal Geld in den Spendenkasten wirfst, oder per Kreditkarte auf einem Kongress spendest, oder du dein Testament auf die WTG ausstellst, dann geh kurz in dich und denke einmal darüber nach, wofür mitunter deine Spende verwendet werden könnte.

Die beiden Urteile, sowohl im Fall von José Lopez als auch von Candace Conti, waren wegweisend. Zum einen weil es überhaupt zu Prozessen gekommen ist, zum anderen weil die Opfer die WTG direkt verklagt haben. Die Prozesse waren öffentlich und bekamen durch die Medien die verdiente Aufmerksamkeit. Nach und nach meldeten und melden sich immer mehr Opfer des sexuellen Missbrauchs und wenden sich mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit:

PENN Live, my news LALocal15Ostsee ZeitungdailymailLA Times,IndependentMirrorThe ArgusDaily EchoMirrorManchester Evening News, usw. usf.

Untersuchungskommissionen wie die Royal Commission in Australien helfen dabei, dass für Aufklärung gesorgt wird. Auch in Großbritannien haben mittlerweile zwei staatliche Kommissionen damit begonnen, die Praktiken im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch bei Zeugen Jehovas zu analysieren.

Darunter die Charity Commission, die ihre Untersuchungen im Jahr 2014 aufgenommen hat.

Gegen die Ermittlungen durch die Charity Commission hat die WTG zwei Jahre lang Versuche unternommen, diese gerichtlich zu vereiteln. Im Sommer 2016 hat das Oberste Gericht in Großbritannien die Untersuchung durch die Charity Commission jedoch für rechtens befunden.

Die Independent Inquiry into Child Sexual Abuse (IICSA) wurde 2015 ins Leben gerufen und ist vergleichbar mit der Royal Commission in Australien. Die damalige Vorsitzende Goddard hat nach Einberufung der Kommission an alle Organisationen ein Rundschreiben versandt, in dem aufgefordert wurde, sämtliche Aufzeichnungen und Dokumente in Fällen von Kindesmissbrauch der Kommission zuzusenden. Laut einer Reportage durch die BBC, hat die WTG wenige Monate nach dieser Aufforderung ein internes Rundschreiben verfasst, in dem Versammlungen aufgefordert wurden, sämtliche Unterlagen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch zu vernichten.

Auch in Deutschland hat eine Kommission ihre Arbeit aufgenommen. Mit Beschluss vom 2. Juli 2015 begrüßte der Deutsche Bundestag die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Aufklärung von sexuellem Missbrauch in Institutionen.

Da die Anweisungen für Zeugen Jehovas weltweit gleich sind, gehe ich davon aus, dass die Untersuchungskommissionen in den einzelnen Ländern die gleichen Ergebnisse zu Tage fördern werden wie die Royal Commission in Australien. Wichtig ist, dass Personen, die Opfer eines Verbrechens wurden, sich bei den Kommissionen melden. Daher muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass es nach internen Regeln möglich ist, Anzeige gegen einen anderen Zeugen Jehovas zu stellen.

Am 14. Juni 2017 hat die Aufarbeitungskommission in Deutschland ihren ersten Zwischenbericht vorgelegt. Aus dem Bericht wird ersichtlich, dass religiöse Institutionen im Jahr 2018 näher untersucht werden. Ein erster Eindruck zeigt, welche Organisationen hier unter die Lupe genommen werden:

Die Kommission wird sich außerdem verstärkt mit Missbrauch in Institutionen des Aufwachsens befassen. Bisher bekannt gewordene Kontexte im institutionellen Bereich sind u. a. Evangelische Kirche, katholische Kirche, Zeugen Jehovas […]
https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/2017/06/Zwischenbericht_Aufarbeitungskommission_Juni_2017.pdf