Interview mit Sebastian Renaud, Versammlung Völklingen/Saar

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Ich habe Sebastian, kurz nach der Veröffentlichung meiner persönlichen Story, auf Facebook kennengelernt. Seit dem tauschen wir uns regelmäßig über unseren Ausstieg und unsere Vergangenheit bei den Zeugen Jehovas aus. Ich freue mich, dass er sich zu einem Interview bereit erklärt hat.


Sebastian, wie bist Du zu den Zeugen gekommen, was war Dein Werdegang?

Mit 20 Jahren begann ich in einer Rockband Gitarre zu spielen, deren anderer Gitarrist mir informell Zeugnis gab. Er selbst hatte Großeltern, die „untätige“ Zeugen waren, und seine Eltern hatten in jungen Jahren die Ortsversammlung besucht, sich der Organisation jedoch nie hingegeben. Ich war begeistert von der Plausibilität der Bibellehren der Zeugen Jehovas und verschlang viele Bücher von ihnen, deren Inhalte z.T. heute längst widerlegt sind – was ich damals natürlich nicht wusste. Mit 27 begann ich ein persönliches Studium, mit 31 ließ ich mich beim internationalen Kongress in Frankfurt am Main 2014 taufen. Schnell bekam ich Vorrechte innerhalb der Versammlung, war einmal im Jahr in meinem Sommerurlaub Hilfspionier und auf dem Weg ein Dienstamtgehilfe zu werden.

Wie hat sich Deine Zugehörigkeit auf Dein Leben ausgewirkt?

Ich vollzog während meiner Zugehörigkeit einen positiven Persönlichkeitswandel. Vom unstrukturierten, nicht ehrlich agierenden Marihuana Konsument, der wenig emotionale Stabilität besaß, leicht beeinflussbar war, viel trank und suizidale Gedanken als Folge starker Minderwertigkeitsgefühle hatte, entwickelte ich mich zu einem strukturierten, klar orientierten und Verantwortung für meine Rolle als Ehemann und Vater übernehmenden Menschen. Viele Außenstehende begrüßten diese Veränderung, obwohl sie mit den Zeugen auch weiterhin nichts zu tun haben wollten.

Hast Du Familie eingebüßt?

Natürlich litt der Kontakt zu allen meinen Familienmitgliedern (niemand von ihnen ist Zeuge). Es war im Sinne der Organisation, so wenig Kontakt wie möglich mit Einfluss nehmenden „Nicht-Zeugen“ zu haben. Sie begründeten dies immer mit biblischen Texten wie z.B. 1. Kor. 15:33, wo es nach der Neuen Welt Übersetzung heißt :

Laßt euch nicht irreführen. Schlechte Gesellschaft verdirbt nützliche Gewohnheiten.

Oder Markus 10:29,30. Ich war davon überzeugt, dass es Jehovas und Christus Wille sein muss, dass ich meinen kleinen Bruder nicht mehr an seinem Geburtstag besuche und auch nicht mehr nach meiner verwitweten Großmutter fragte an Ihrem Geburtstag. Die Trauer und Enttäuschung ließ das Verhältnis zwischen mir und meiner Familie, aber auch meiner Familie zu mir und meinen Kindern sehr unangenehm kühl werden.

Was war der Grund deines Ausstiegs?

Mein drittes Kind kam zu früh auf die Welt per Notsectio, da meine Frau an einer schweren Infektion litt. Es war die 31. Schwangerschaftswoche und ich stand plötzlich alleine da, unerwartet. Meine Frau, schwer krank in dem einen Krankenhaus, meine Tochter alleine in einem Wärmebettchen im anderen Krankenhaus. Unser gemeinsamer Sohn litt an der gleichen Virusinfektion und lag seit Tagen im Fieber.

Es war der Monat März 2016 und ich sollte Hilfspionier machen. Wir waren immer noch dabei das Haus zu renovieren, dass wir 3 Monate zuvor kauften. Ich war am Ende. Ich hatte das Gefühl, es wird mir alles genommen. Da ich weder Hiob war, noch so eine Aktion seitens der geistigen Mächte notwendig ist heutzutage, erhoffte ich mir eine Antwort von Gott. Irgendetwas, dass mir Schutz gibt oder Halt. Aber rückblickend kann ich sagen, dass da nichts war. Ich war allein. Ab dem Zeitpunkt war ich am Zweifeln, ob das denn wirklich das Richtige ist.

Ich trat kürzer im Dienst, mir fielen die normalen Tätigkeiten (jeden Tag persönliches Bibellesen, Versammlungen vorbereiten, Bücher und Wachttürme vorstudieren, Familienstudium, Kinder in der „Wahrheit“ erziehen und mindestens 8h/Monat in den Dienst gehen) zunehmend schwerer und nichts machte mir mehr Spaß. Ich begann viel zu trinken abends und im Internet nach Leidensgenossen zu suchen, denn ich fühlte mich als Versager, der Jehovas‘  nicht würdig ist. Da stieß ich auf die Gerichtsurteile mit den Millionenzahlungen der WTG an die Missbrauchsopfer in Amerika. Das Verhalten Gerrit Lösch’s gegenüber dem Gericht. Ich forschte weiter und entdeckte die Ergebnisse der Case Study, die Zwei-Zeugen Regel, die Immobiliengeschäfte in Brooklyn. Da war ich erschüttert. Wenn jetzt noch Fehler in der Lehre bewiesen würden, wäre meine Welt komplett zerbrochen. Sie zerbrach dann auch. Denn die Lehre ist heutzutage nicht mehr haltbar, was dank Deiner wunderschönen Recherchen für jedermann zugänglich ist.

Wie siehst Du die Zukunft der WTG und wie schätzt du diese Gemeinschaft an sich ein?

Zeugen Jehovas sind an sich ungefährliche und freundliche Menschen. Viele sind hilfsbereit und untereinander eine verschworene und zusammenhaltende Gesellschaft. Sie schotten sich stark nach Außen hin ab, weil sie sich nicht als Teil der Welt sehen sondern sich lieber für eine bessere Welt aufheben. Sie ignorieren prinzipiell alles an Kritik oder Hinterfragen der Organisation sowie ihres Glaubens. Sie sind meiner Meinung nach in diesem Aspekt gefangen im Denken und nicht Frei. Darin sehe ich die Gefahr für die ganze Gemeinschaft. Sie glauben und folgen blind den Anweisungen und Lehren der WTG, die sie als Vertreter Gottes und von Jesus Christus geführt ansehen. Sie ignorieren konsequent Beweise für die Irrlehren der WTG, den Missbrauchsskandal, die Immobiliengeschäfte, das Veruntreuen von Millionensummen der WTG zu nicht bekannten Zwecken und sehen es als ihre Pflicht an, sich so zu verhalten, da sie davon überzeugt sind nur so gerettet werden zu können.

Da Zeugen, Zeugen zeugen, und der Ausstieg eines Familienmitglieds den sozialen Tod und einen sofortigen Kontaktabbruch zu allen Angehörigen und Freunden innerhalb der Organisation bedeutet, ist der Verbleib der Organisation natürlich gesichert. Nach meiner Ansicht wird im Zeitalter der absoluten Informationsflut das Anwerben und Gewinnen neuer Mitglieder jedoch zunehmend schwieriger. Ich beobachte ein angeschlagenes Image der WTG, sie versucht sich neu zu erfinden, hat einen Internet-Sender und produziert Unmengen an Clips, Post’s und Sendungen, die die Mitglieder und auch Interessierte bei der Stange halten sollen. Für mich bleibt es jedenfalls spannend die Situation weiter zu beobachten.

Was hat sich seit deinem Ausstieg verändert?

Ich habe meine Familie zurück und feiere mit meinen Kindern die Feste unserer Gesellschaft. Ich verbiete ihnen nicht mehr so sein zu dürfen wie sie sein möchten. Ich war auf dem 81. und vielleicht letzten Geburtstag meiner Großmutter die mir enorm viel in meinem Leben geholfen hat und für mich da war. Sie weinte am Ende vor Freude, und sagte, dies sei ihr schönstes Geschenk gewesen, dass ich zu ihr kam ins Seniorenheim mit meinen Kindern, am Ende ihrer Tage. Es fühlt sich alles so neu und großartig an. Die Welt ist bunt. Es gibt viele gute Menschen da draußen, von denen sich manch ein Zeuge eine Scheibe abschneiden kann.

Bist Du noch gläubig?

Ja. Ich glaube nach wie vor an Gott und Jesus Christus. Der war ein wirklich wegweisender Lehrer, an dessen Aussagen ich mich gerne erinnere. Als ich bei meiner Großmutter war, und die ganzen Alten, einsamen Damen und Herren auf den Fluren, den Sofas oder an den Raucherplätzen sah, wünschte ich mir das er jetzt da sein könnte. Ich bin davon überzeugt, er hätte mich wegen des Besuchs auf dem Geburtstag nicht einer schweren Sünde bezichtigt und ausgeschlossen. Sein erstes Wunder, von dem die Bibel berichtet war, 200 Liter Wasser in den vortrefflichsten Wein seiner Zeit zu Verwandeln, an einem Hochzeitsfest zu dem er eingeladen war. Man beachte, die hatten alle schon Wein getrunken. Was hätte er wohl als geladener Gast an dem Geburtstag meiner Großmutter mit den geistig und körperlich schwachen und gebrochenen Menschen gemacht? Ich wette, jeder der Anwesenden wäre an diesem Tag sehr glücklich und zufrieden gewesen.

Reaktionen zu diesem Beitrag

  1. Tagatheeswaran sagt:

    Ich würde auch sofort ein Interview geben wenn jemand fragen hat…es ist grausam gewesen…

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    1. Gabriele Becker sagt:

      Respekt!!!
      Ein wunderbarer Mensch, der einfühlsam berichtet wie er aus einer tiefen persönlichen Krise heraus, seine eigenen Widerstands Ressourcen aktivieren konnte. Gott ist da! Religiöse Gemeinschaften braucht’s absolut nicht….. wenn man überlegt in welchem Ausmaß über Jahrhunderte bis heute Menschen ihres Glaubens verfolgt, gefoltert und getötet wurden/werden. Das Leben ist nicht einfach, dennoch schön. Wer sich erdverbunden fühlt ,menschlich ist , die Liebe lebt und vor allem die Natur zu schätzen weiß, der ist Mensch !
      …..und eigentlich ist es wunderbar ein Mensch zu sein…. hdl G.B.

  2. Kurz Herbert sagt:

    Anscheinend kennen ZJ den Vers aus
    Hebräer 4 16 nicht: Lasst uns mit Zuversicht zum Thron der GNADE gehen….

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  3. Freigeist sagt:

    die Erosion der Zeugen Jehovas schreitet voran. Es wird immer Menschen geben, die Irrlehren nachlaufen.
    Aber es gibt immer mehr Menschen, die diesen Lebewohl sagen.

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  4. Barbara Kohout sagt:

    Mich hat es besonders gefreut zu lesen, dass man auch kurz nach dem Einstieg wieder aussteigen kann. Herzlichen Glückwunsch für diese gute Entscheidung. Und – ganz nach meiner persönlichen Meinung – Sebastian war gerade in der Zeit seiner tiefsten Zweifel nicht allein. Er hat genau daraus die richtigen Antworten gefunden.
    Vielen Dank Oliver und Sebastian.

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  5. Walter II sagt:

    Dieser Bericht ist in einer Hinsicht besonders beeindruckend.
    Zum einen hast du es mit Hilfe der Zeugen Jehovas geschafft einen destruktiven Lebensstil der von Sucht geprägt war zu überwinden.
    Gerade solche Beispiele werden unter den Zeugen besonders hochgejubelt.
    Viele sehen gerade solch einen kompletten Wandel als das Wunder schlechthin.
    In vielen Versammlungen gibt es vielleicht 1-2 Personen die es auf diese Weise geschafft haben ein besseres Leben zu führen.
    Das aber unzählige andere Menschen die es eine Zeit lang „krachen“ haben lassen und dann auch die Kurve gekriegt haben, wird oft vollkommen ausgeblendet.
    Es gibt auch Fälle in manchen Versammlungen wo es so ist, das die Person immer wieder die Tendenz hat rückfällig zu werden.
    Da gibt es die Schwester, jahrzehntelang Medikamenten abhängig, hat aufgrund ihrer Suchtkarriere geistige Einschränkungen. Diese hat manchmal Rückfälle und wird durch die Versammlung im besonderen durch die Ältesten immer wieder auf Spur gebracht.
    Ja, für diese Schwester ist es ein Segen Teil der Versammlung zu sein.
    Wäre sie es nicht, dann würde sich jemand anders um sie kümmern.
    Meistens sind sowieso auch andere soziale Einrichtungen aktiv.
    (Die machen das natürlich nicht aus brüderliche Nächstenliebe.)

    Vor Jahrzehnten als ich noch ganz von der Wahrheit überzeugt war, hörte ich mal eine Reportage im Radio.
    Ein Mann erzählte das er vor 33 Jahren als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten war. Diebstahl, Drogen, und einiges mehr. Für 2 Jahre musste er ins Gefängnis. Das, so sein Resümee hatte ihn geheilt. Er führte von da an ein „gutes“ Leben. Das Gefängnis half ihn unter anderem von seiner Drogensucht los zu kommen.
    Ich hielt diesen Bericht damals für eine glatte Lüge. Wenn man als Zeuge Jehovas ganz auf Schiene steht, dann ist man der Meinung das alles weltliche nur zu unserer Täuschung fabriziert wird. Man ist der Meinung das so jemand nur aus zweitrangigen Beweggründen solche Veränderungen angeht. Das sie nicht auf Dauer ausgelegt ist. Das wichtigste aber ist, er tut es nicht weil er Jehova liebt.
    Tatsächlich ist es so, das es mehrere Beweggründe für Änderungen in der Lebensführung geben kann.
    Manch einer ist der Überzeugung Jesus gefunden zu haben. Wenn dieser meint das Jesus ihn liebt, kann dss ein Zeuge Jehovas nicht glauben.
    Er ist der Meinung nur durch ein Bibelstudium und einer Verbindung zur Organisation wird ihn die wahre „liebe“ zu Jesus offenbaren.
    Ja, es gibt viele Möglichkeiten dem eigenen Leben einen Sinn und Richtung zu geben.
    Eine davon ist Zeuge Jehovas zu sein.

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