Berufungsgericht entscheidet gegen den Einspruch der Wachtturm-Gesellschaft

Am 9. November 2017 hat das Berufungsgericht in Kalifornien die Entscheidung des obersten Gerichtshofes bestätigt, dass die Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc., die im Juni 2016 verhängte Geldstrafe in Höhe von 4.000 US-Dollar pro Tag zahlen muss und zudem alle Kosten in diesem Verfahren trägt. Das Gericht beschloss das Urteil mit folgenden Worten:

Wir sind überzeugt, dass die Anordnung des obersten Gerichtshofes nicht willkürlich, launenhaft oder skurril war. Im Gegenteil, der oberste Gerichtshof hat viel Geduld und Flexibilität im Umgang mit einem widerspenstigen Rechtsstreiter gezeigt, der sich weigerte, Anordnungen zu befolgen, und sich lediglich in der Argumentationsweise wiederholte. Wir stimmen daher dem Urteil zu.
Gerichtsdokumente

Die Vorgeschichte

José Lopez wurde in den Jahren 1982 bis 1995 von Gonzalo Campos, einem Zeugen Jehovas aus San Diego, sexuell missbraucht. 2011 hat Campos unter Eid den Missbrauch zugegeben. Es kam raus, dass Campos neben Lopez noch weitere Jungen missbrauchte. Zu den Opfern gehörte unter anderem Osbaldo Padron. Dieser reichte, wie auch José Lopez, Klage gegen die Wachtturm-Gesellschaft ein, nachdem er erfahren hatte, dass die Versammlungsältesten sowie Funktionäre aus New York mehr als ein Jahrzehnt von den Fällen Bescheid wussten. Man hat weder die Polizei noch andere Behörden kontaktiert. Stattdessen wurde Campos im Jahr 1993 zum Dienstamtgehilfen und anschließend zum Ältesten ernannt. Kurze Zeit nach der Ernennung, wurde Padron im Alter von 7 und 8 Jahren von Campos missbraucht.

Gonzalo Campos bei der eidesstattlichen Erklärung

Während sich einige Opfer von Campos mit der Wachtturm-Gesellschaft außergerichtlich einigten, entschieden sich Lopez und Padron Zivilklage einzureichen. Im Februar 2013 erhielt der Anwalt von Lopez, Irvin Zalkin, Informationen die bestätigten, dass die Wachtturm-Gesellschaft im Besitz von Dokumenten ist, die Fälle des sexuellen Missbrauchs an Kindern beinhalten. Des Weiteren hatte Zalkin angeordnet, dass Gerrit Lösch, Mitglied der Leitenden Körperschaft, sich zu den Vorwürfen äußern sollte. Die WTG kam der Aufforderung, die Dokumente zur Verfügung zu stellen, nicht nach. Gerrit Lösch bestritt außerdem in einer dreiseitigen Stellungnahme irgendwelche Verbindungen zur WTG zu haben. Laut jwsurvey.org hat die WTG die Mitglieder der Leitenden Körperschaft  im Jahr 2001 aus den Gesellschaften in New York und Pennsylvania streichen lassen, um sie vor rechtlichen Auseinandersetzungen zu schützen. Das oberste Gericht in San Diego hat die WTG daraufhin zu einer Zahlung von 13,5 Millionen US-Dollar verurteilt. Bei dem Urteil handelte es sich um ein default judgment, was in Deutschland als Versäumnisurteil bekannt ist.

Die Wachtturm-Gesellschaft legte Einspruch gegen das Urteil ein, da sie, nach eigener Aussage, keine Chance erhielt sich ausreichend zu verteidigen. Das Gericht stimmte dem Einspruch zu und verhängte vorerst nur kleinere Sanktionen, um die WTG dazu zu bewegen, die relevanten Dokumente zu veröffentlichen. Sie kamen der Aufforderung insoweit nach, indem sie die Dokumente an Irwin Zalkin übergeben haben, unter dem Vorbehalt, dass er sie niemand anderem zugänglich machen dürfe. Die Dokumente umfassten allerdings nicht wie gefordert einen Zeitraum von 19 Jahren, sondern nur 4 Jahre. Zudem waren Ortschaften sowie Namen von Tätern geschwärzt.

Der Zaubertrick

Warum übergab die WTG dem Gericht nur Dokumente für einen Zeitraum von 4 Jahren? Am 14. März 1997 wurden Älteste in den Vereinigten Staaten durch einen Brief darum gebeten, Dokumente über „ehemalige“ oder „bekannte“ Kinderschänder an die Zentrale in New York zu senden. Die Ältesten wurden angewiesen, allen Mitältesten Zugang zu den Dokumenten zu gewähren, jedoch nicht mit Mitgliedern der Gemeinde darüber zu sprechen.

Im Jahr 2001, 4 Jahre später, wurde die Christian Congregation of Jehovah’s Witnesses, Inc. gegründet, um die Gemeindeangelegenheiten der Zeugen Jehovas in den Vereinigten Staaten zu organisieren und zu verwalten. Die Rechtsanwälte der WTG argumentierten daraufhin vor Gericht, dass sie nach der Gründung der CCJW keinen Zugang mehr zu Dokumenten über Missbrauchsfälle hätte, oder diese kontrollieren könnte.

Die WTG hat daher nur die redigierten Dokumente von 1997 bis 2001 zur Verfügung gestellt, um einer Zahlung von 13,5 Millionen US-Dollar aus dem Weg zu gehen.

Ein weiterer Versuch

Nach Lopez hat im Jahr 2013 auch Padron Klage gegen die WTG eingereicht. Wachtturm-Funktionäre und mehrere Versammlungsälteste wussten, dass Gonzalo Campos Kinder sexuell missbraucht hat, aber unternahmen nichts, um Osbaldo Padron oder die örtliche Gemeinde zu schützen.

Wie bei Lopez verlangte man auch im Fall von Padron, dass die WTG alle Dokumente im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch seit März 1997 veröffentlicht. Die WTG weigerte sich erneut, und argumentierte unter anderem, dass ein Vollzeitangestellter in der Zentrale bis zu 28 Jahre bräuchte, um die Akten von mehr als 14.400 Versammlungen zu durchsuchen um die Missbrauchsfälle zu finden. Das Gericht lehnte die Argumente der WTG ab, einschließlich des Versuchs, nur Dokumente aus dem Bundesstaat Kalifornien zu veröffentlichen.

Eine vom Gericht angeforderte Untersuchung ergab, dass die WTG in New York und die Christian Congregation of Jehovah’s Witnesses, Inc. eng mit einander verbunden sind. Daher erließ das oberste Gericht am 25. März 2016 eine Anordnung, in der eine vollständige Freigabe der Dokumente durch die WTG gefordert wurde.

Die WTG lehnte erneut ab.

Das Gericht entschied schließlich, dass Sanktionen gegen die WTG sowohl gerechtfertigt als auch notwendig seien.

Das Gericht sanktionierte daher Watchtower mit $ 2.000 für jeden Tag, an dem keine Dokumente seitens Watchtower veröffentlicht werden und $ 2.000 für jeden Tag, an dem Watchtower nicht nach den entsprechenden Dokumenten sucht.

„Wenig Respekt vor der Autorität des obersten Gerichts“

Die WTG hat daraufhin Einspruch gegen die vom Gericht angeordneten Sanktionen erhoben, obwohl sie diese im Fall Lopez erbeten hatten, um einer Strafe von 13,5 Millionen US Dollar zu entkommen. Die Geduld des kalifornischen Gerichts wurde mehr und mehr auf die Probe gestellt. Venire contra factum proprium oder auch „Zuwiderhandlung gegen das eigene frühere Verhalten“ schließt aus, dass man einen Vorteil vor Gericht erlangt, indem man eine gegensätzliche Position aus einem früheren Verfahren einnimmt.

Das Gericht erklärte, wie die WTG diesen Rechtsgrundsatz verletzte:

Watchtower hat zwei Positionen eingenommen. Im Fall Lopez, 266 Cal. App. 4th 566, argumentierten sie, dass Sanktionen in Form einer Geldstrafe, […] angemessen wären. In der vorliegenden Angelegenheit [Padron] behauptet Watchtower nun, das Gericht sei nicht befugt, solche Sanktionen zu verhängen. Watchtower hat diese gegensätzlichen Positionen in zwei getrennten Fällen vor dem Gericht vertreten.

Weiter heißt es:

Es ist unbestritten, dass Watchtower den Rechtsstreit missbraucht hat und wenig Respekt vor der Autorität des obersten Gerichts gezeigt hat.

Es ist nicht verwunderlich, dass das kalifornische Berufungsgericht sich der absichtlichen Verschleierung der WTG bewusst wurde, als es die Zusammenhänge zwischen der Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc. und der Christian Congregation of Jehovah’s Witnesses, Inc. erkannte. Zu behaupten, dass die WTG keinen Zugang bzw. keine Kontrolle über Dokumente im Zusammenhang mit Missbrauchfällen hätte, war ein Versuch, das Gericht in die Irre zu führen. Im Schreiben des Berufungsgerichts heißt es:

Die Darstellungen der Watchtower sowie die Erklärungen der Funktionäre weisen eindeutig darauf hin, dass die Watchtower von 1997 bis heute Zugang zu Dokumenten hat. Wir schlussfolgern daher, untermauert durch die Beweise der Untersuchungsrichter, dass Watchtower sich über die im März 2001 erfolgte Errichtung der CCJW hinaus in „Verwahrung und Kontrolle“ von wichtigen Dokumenten befand.

Das Berufungsgericht hat den Einspruch abgelehnt. Daher muss die WTG der Zahlung von mittlerweile rund 2 Millionen US-Dollar nachkommen. Inwieweit sie der Forderung des Gerichts entsprechen, bleibt abzuwarten. Das Urteil wurde am 9. November 2017 gefällt. Die WTG hat nun 40 Tage Zeit, um einen Antrag auf Überprüfung beim obersten Gerichtshof von Kalifornien einzureichen. Jose Lopez und Osbaldo Padron führen ihre Zivilklagen gegen die WTG fort.

Reaktionen zu diesem Beitrag

  1. Peter Dittrich sagt:

    Hoffentlich werden alle Missbrauchs und Verschleierungsfälle weltweit genauso rigoros verfolgt !

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  2. Walter sagt:

    Gut rausgearbeitet. Wenn man davon nichts weiß könnte man den Kopf schütteln. Obwohl ich mir heute noch den Kopf schüttel. ?

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  3. BenKenobi sagt:

    Danke für die Zusammenfassung dieser erfreulichen Entwicklungen. Mir bedeutet es persönlich sehr viel wenn dieser verlogene Konzern eines Tages zerfällt.

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  4. Walter sagt:

    Sehr gut zusammengefasst bitte macht weiter so ,die Machenschaften dieser teuflischen Sekte muss aufgedeckt werden!

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  5. Klaus sagt:

    Diese ganze Angelegenheit ist vieler Hinsicht verwerflich:
    1) selbstberständlich ist Kindesmissbrauch in einer Sekte, die behauptet, die wahre Religion zu sein, äußerst verwerflich.
    2) woher kommen die Millionen Strafzahlungen für ein Versäumnisurteil? Und wenn es nur 4000$ pro Tag sind? Sind das nicht Spendengelder? Also Gelder, die für das Königreichswerk gesammelt werden? Macht die WTG nicht auch Gewinne durch Aktiengeschäfte? Oder ist das der Grund, um möglichst viel Kapital zu bekommen, warum es eine Broschüre der WTG gibt, in der detailliert beschrieben wird, wie man ihr gezielt Vermögen in Bar und Immobilien zukommen lassen kann und wie man testamentarisch sein Hab und Gut der WTG vermachen kann?
    3) die WTG handelt gegen ihre eigenen Grundsätze.
    (Zitat Anfang): Das oberste Gericht in San Diego hat die WTG daraufhin zu einer Zahlung von 13,5 Millionen US-Dollar verurteilt. Bei dem Urteil handelte es sich um ein default judgment, was in Deutschland als Versäumnisurteil bekannt ist.
    Die Wachtturm-Gesellschaft legte Einspruch gegen das Urteil ein, da sie, nach eigener Aussage, keine Chance erhielt sich ausreichend zu verteidigen. Das Gericht stimmte dem Einspruch zu und verhängte vorerst nur kleinere Sanktionen, um die WTG dazu zu bewegen, die relevanten Dokumente zu veröffentlichen. (Zitat Ende)
    Ich wurde in Abwesenheit wegen Abtrünnigkeit ausgeschlossen, weil ich u.a. Zweifel an 1914 und den 144000 aussprach und diesbezüglich sogar Selters gut recherchiert anschrieb.
    In Abwesenheit deswegen, weil ich nach der Vorladung zur Rechtskommiteeverhandlung darum bat, mir Gründe mit den mir zur Last gelegten Punkten zu nennen, damit ich Gelegenheit hätte, mich ausreichend zu verteidigen. Das versagte man mir mehrfach. Heute weiß ich, daß Ältesten vorgeschrieben wird, dem Beschuldigten nichts schriftliches in die Hand zu geben.
    Also genau das Recht, was sich die WTG vor weltlichen Gerichten nimmt, versagt sie ihren eigenen Mitgliedern! Ich empfinde dieses Handeln sehr perfide.

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