Interview mit Barbara Kohout – Zeugen Jehovas und ihre Haltung zu Bluttransfusionen

Das nachfolgende Interview mit Barbara Kohout fand im Rahmen eines Seminars statt: „Medizinethik – Wunder oder Fortschritt? – Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen Forschung unter Berücksichtigung der christlichen Ethik“. Folgende Fragen standen dabei im Fokus:

  • Beruht die Ablehnung der Bluttransfusion auf einer christlichen Forderung?
  • Ist es eine echte Gewissensentscheidung des einzelnen Zeugen Jehovas oder ein Akt des Gehorsams, der unter Druck gefordert wird?

Frage: Wie stehen die Zeugen Jehovas zu lebensverlängernden Maßnahmen?

Hier kann ich ganz klar sagen, dass sie sich in ihren Entscheidungen nicht von den übrigen Menschen unterscheiden. Sie stimmen allen Maßnahmen zu, denen sie vertrauen. Oder lehnen etwas ab, von dem sie sich keinen wirklichen Nutzen für ihr Leben oder ihre Lebensqualität versprechen. Wie das jeder Mensch für sich selbst eben entscheiden würde.

Frage: Was ist im medizinischen Sinn verboten und warum?

Hier antwortet ein Zeuge Jehovas: Wir lehnen eine Bluttransfusion ab, weil wir uns in Allem nach der Bibel richten und in Apostelgeschichte Kapitel 15, 28-29 wird auch Christen geboten:

Denn der heilige Geist und wir selbst haben es für gut befunden, euch keine weitere Bürde aufzuerlegen als folgende notwendigen Dinge: euch von Dingen zu enthalten, die Götzen geopfert wurden, sowie von Blut und von Erwürgtem und von Hurerei. Wenn ihr euch vor diesen Dingen sorgfältig bewahrt, wird es euch gutgehen.

Darum können wir es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, einer Bluttransfusion zuzustimmen.

Wie auf Einwände geantwortet werden soll, wird in verschiedener Form vorgegeben. Zum Beispiel in dem Taschen-Lexikon Unterredungen anhand der Schriften, im monatlichen Mitteilungsblatt „Arbeitsheft“ sowie in Rundschreiben und Vorträgen. Leider wird die vorgegebene Argumentation kommentarlos akzeptiert und nicht hinterfragt, ob sie schlüssig und plausibel ist. Für mich steht heute fest: sie ist weder theologisch korrekt, noch christlich noch medizinisch richtig. Es ist für Bibelexegeten und Theologen unstrittig, dass diese Anweisung lediglich an Christenversammlungen ging, in denen Judenchristen und Heidenchristen zusammen kamen. Es entstand ein Glaubensstreit um die Notwendigkeit der Beschneidung von Heidenchristen. Zu dieser Frage wurde ein Konzil in Jerusalem einberufen und man kam zu dem Schluss, dass die Beschneidung unter dem christlichen Gebot nicht mehr erforderlich war, jedoch sollte auf das Gewissen der Judenchristen insofern Rücksicht genommen werden, als Juden Blut nur für ihre Zeremonien in Verbindung mit den Opferriten verwendeten. Für sie war es undenkbar Blut zu genießen. Darum die Anweisung, sich „des Blutes zu enthalten“. Aber es war ganz klar keine Aussage über die medizinische Verwendung von Blut. Die Wachtturm-Organisation stützt sich auf die Bestimmungen im mosaischen Gesetz, nach denen das Blut geschlachteter Tiere ausgegossen werden musste. Darum verbietet sich jedes LAGERN von Menschenblut, auch das Eigenblut, welches man eventuell für eine geplante Operation verwenden könnte.

In neuerer Zeit wurde eine Liste von zulässigen Blutbestandteilen mit der Begründung veröffentlicht, es sei nur eine unerhebliche Menge von Blut. Die Zustimmung zur Verwendung wird in diesem Fall dem Gewissen des Einzelnen überlassen. Einer dieser Bestandteile ist ALBUMIN. Albumine werden in erster Linie bei Verbrennungen und schweren Blutungen eingesetzt. Jemand, der Verbrennungen dritten Grades, mit über 30 bis 50 Prozent seiner Körperoberfläche hat, müsste etwa 600 Gramm Albumin erhalten. Das wäre nach den Richtlinien der Zeugen Jehovas erlaubt. Wie viel Blut benötigt man, um diese Menge Albumin zu extrahieren? Circa 10 bis 15 Liter. (In einem Liter Blut sind ungefähr 50 Gramm Albumin enthalten. Um 600 Gramm zu gewinnen wären daher 12 Liter Blut nötig.) Das ist wohl kaum eine „geringe Menge“. Das Blut für die Verarbeitung muss „gelagert“ werden und kann nicht nach der Vorschrift des Alten Testamentes, „ausgegossen“ werden.

Ein weiterer, zulässiger Bestandteil sind IMMUNGLOBULINE (Gammaglobuline). Zum Schutz gegen die Cholera werden Personen, die in gefährdete Länder Reisen, mit diesen Wirkstoffen geimpft. Um ausreichend für eine Injektion zu bekommen sind an die 3 Liter Blut als Grundlage nötig. (Zu dieser Zahl kommt man, wenn man den Gehalt an Gammaglobulin in einer Kanüle, durch den Gehalt in einem Liter Blut teilt.) In der Regel wird für eine übliche Transfusion weit weniger Blut eingesetzt. Nochmals betont, es wird von „gelagertem“ Blut gewonnen. Das Blut wird nicht „ausgegossen“.

Bleiben noch die zulässigen HÄMOPHILIEPRÄPARATE (Faktor VIII und IX). Ehe diese gebraucht wurden, lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Bluters in den 1940er Jahren bei 16,5 Jahren. (Im Jahre 1900 waren es nur 11 Jahre). Heute kann ein Bluter dank der aus dem Blut gewonnenen Präparate ein normales Lebensalter erreichen. Um die Menge an Präparaten herzustellen, die einen Bluter über eine solche Zeitspanne am Leben erhalten kann, sind Auszüge aus schätzungsweise 100 000 Litern Blut erforderlich. (Dies ist sehr zurückhaltend geschätzt. Die korrekte Zahl liegt vermutlich in den meisten Fällen viel höher. Der Wachtturm vom 15. Juni 1985, Seite 30 gibt an:

Eine einzige Injektionsmenge Faktor VIII wird aus Plasma gewonnen, das von mehr als 2.500 Blutspenden stammt.) Die Verwendung eines jeden dieser Blutbestandteile bringt offensichtlich mit sich, dass große, ja enorme Mengen von Blut gelagert werden.
Wachtturm, 15. Juni 1985

Einerseits verfügt die Anweisung durch die „geistige Speise“ der Leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas, dass die Gabe dieser Bestandteile zulässig sei – damit natürlich auch die Gewinnung und Herstellung aus gelagertem Blut –, andererseits sagt sie, jede Lagerung von Blut werde in der Bibel verurteilt und ist damit nicht erlaubt. Das Verbot, autologes Blut, also eine gewisse Menge Eigenblut vor einer geplanten OP zu lagern, um es während oder nach dem chirurgischen Eingriff dem Kreislauf wieder zuzuführen, wird mit genau dem Argument begründet, dass das Lagern von Blut vom biblischen Standpunkt verurteilt wird. Der Verwendung eines Cell Savers – der Erweiterung des Kreislaufsystems mittels einer Apparatur – kann ein Zeuge Jehovas nur zustimmen, wenn ihm garantiert wird, dass dabei der Blutkreislauf nicht unterbrochen wird.

Ich kann diese Vorschriften nur willkürlich, inkonsequent und widersprüchlich bezeichnen.

Wie kann ich glauben, dass diejenigen, die solche Dogmen formuliert haben, nicht über die Fakten informiert sind und die Inkonsequenz und Willkürlichkeit nicht erkannt haben? Wie kann man solche Vorschriften, die eine reale Lebensbedrohung sein können als redlich empfinden? Bei der Anhörung vor dem Bremer Senat sagte der Rechtsanwalt der Wachtturm-Gesellschaft: Bei der Frage der Verweigerung von Bluttransfusionen handele es sich um eine vorweggenommene Gewissensentscheidung, die bei der Taufe getroffen wird. Er weiß, dass auch Kinder im Alter ab 7 Jahren getauft werden! Ein 10-jähriges Mädchen kann nicht wissen, wie es sich als gebärende Mutter fühlen wird, die eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnen muss, in dem Wissen, dass ihr Neugeborenes dann eine Halbwaise sein wird. Mit solchen Gewissensentscheidungen regelt die Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas durch unzählige Gebote, im wahrsten Sinne des Wortes, das Leben der Mitglieder. Die weltweite Einheitlichkeit soll der Beweis für den Segen Jehovas sein. Darum werden solche „Gewissensentscheidungen“ im vorauseilenden Gehorsam erwartet. In Fragen der Verwendung von Blut, des Wehrdienstes, der Anerkennung von innerorganisatorischen Entscheidungen der Rechtskomitees, bedeutet es eine massive Einmischung in die persönlichen, familiären und sozialen Beziehungen der Religionsmitglieder. Es ist nicht die Frage, ob etwas im medizinischen oder gar christlichen Sinne verboten ist. Es geht um die Forderung nach absolutem Gehorsam gegenüber den Vorschriften der Leitenden Körperschaft.

Frage: Sind Leute aus Ihrem Umkreis gestorben, weil sie nicht behandelt werden durften?

Ja, im August 2011 starb mein Schwager. Er war Risikopatient, weil er über Jahre das blutgerinnungshemmende Medikament Marcumar nehmen musste. Die Ärzte wollten eine notwendige Operation ohne seine Erlaubnis zu einer Bluttransfusion nicht machen. Schließlich kam es zu einer Notfall-Operation bei der er so viel Blut verlor, dass sein Gehirn mit Sauerstoff unterversorgt wurde. Mein Neffe – sein Sohn – hatte auf einem Medizin-Studium bestanden. Dafür leistete er seinen Wehr-Ersatzdienst an einem großen Klinikum. Ihm wurde die Gemeinschaft entzogen, weil das damals gegen die Wachtturm-Regeln zum Wehrdienst verstoßen hatte. Mein Neffe ist Arzt geworden. Er stand am Krankenbett seines Vaters und flehte ihn an, einer Transfusion zuzustimmen. Er beschwor seine Mutter: „Wenn ich Papa eine Bluttransfusion gebe, geht es ihm innerhalb einer halben Stunde wieder besser und er kann noch Jahre weiter leben.“ Es war vergeblich. Die Eltern blieben bei der Verweigerung. Mein Schwager verstarb nach wenigen Wochen an den Folgen der Hirnschädigung.

Frage: Wie wird konkret auf Organspenden reagiert?

Organspenden sind in der neueren Verlautbarung der eigenen Entscheidung des Betroffenen überlassen. In früheren Jahren bezeichnete man sie als „Kannibalismus“. Damals durften auch Schutzimpfungen, die auf der Basis von Hühnerblut hergestellt wurden (Tetanus-Serum), nicht akzeptiert werden. Parallel zu den Bemühungen um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechtes wurden die Vorschriften relativiert. Es muss lediglich die Verwendung von Blutkonserven verweigert werden. Bestimmte Blutfraktionen können akzeptiert werden, jedoch ist der 90 % Wasserbestandteil im Plasma immer noch verboten.

Für mich kann das weder mit Ethik noch mit christlicher oder religiöser Logik begründet werden.

Frage: Gab es medizinische Fälle, in denen Sie wegen Ihres Glaubens anders gehandelt haben, als es Ihnen von den Ärzten geraten wurde?

In diesen Fällen hatten wir großes Glück. Als meine Tochter zum Beispiel nach einer Mandeloperation einen Blutsturz hatte, wurde sie von dem behandelnden Arzt in eine Privatklinik nach Göttingen verlegt. Dort konnte man ihr ohne eine Bluttransfusion helfen. Sie hatte zwar sehr viel Blut verloren, aber es ist nochmal alles gut gegangen. Auch unseren jüngsten Sohn haben wir nicht in Garmisch-Partenkirchen operieren lassen, weil uns dort keine Zusicherung gegeben wurde, dass sie in jedem Fall auf die Verabreichung von Blut verzichten würden. Wir fanden dann einen Arzt in München. Er operierte unseren Sohn in seiner Privatklinik und es ist alles gut gegangen.

Frage: Was hat sie all die Jahre bei den Zeugen Jehovas gehalten?

Die Ursache war die Methode mit der destruktive Kulte, Sekten oder Religionsdiktaturen arbeiten. Sie konstruieren eine Lebensbedrohliche Situation und versprechen Schutz für den Fall, dass man gehorcht. In der Watchtower-Library für die Zeit von 1970 bis 2010 finden sich die Drohworte Satan circa 9.000 Mal, Teufel 5.000, Dämonen 3.500, Vernichtung 4.700 und Harmagedon (Krieg Gottes) 2.000 Mal. Das sind nur die Substantive – nicht die Adjektive und Verben dazu. Manche erklären das mit dem „Stockholm Syndrom“ – das Opfer solidarisiert sich mit dem Täter, weil es sich dadurch eine Erleichterung für seine Situation verspricht. Das Versprechen der Wachtturm-Organisation beinhaltet so hehre Ziele wie das ewige Leben, die Gunst Gottes, ewige Segnungen im Paradies, die Segnungen des Königreiches Gottes. Die Bedingung dieses Begünstigung zu erreichen ist eben der absolute Gehorsam.

ARD-Mediathek: Eine Familie entkommt den Zeugen Jehovas – 4:37 Min.

Frage: Wann ist Ihnen aufgefallen, dass an der ganzen „Sache“ etwas nicht stimmt?

Als ich versucht habe, meinen Sohn zu retten. Er hat im Internet Beiträge veröffentlicht, die sich kritisch mit den Lehren der Zeugen Jehovas auseinander gesetzt haben. Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich im Unrecht war und er die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hatte. Seine Webseite ist: https://jessussirach.jimdo.com/videos-%C3%BCber-jz-i/

Frage: Ist es Pflicht, bei Leuten an der Haustür zu werben?

Das ist die erste Voraussetzung, wenn jemand Zeuge Jehovas werden will. Niemand wird zur Taufe zugelassen, bevor er zu dieser Werbetätigkeit bereit ist. Bereits 7-jährige Kinder werden in der sogenannten Theokratischen Predigtdienstschule eingeschrieben, sobald sie etwas lesen können. Sie lernen dann, wie man andere auf die Wachtturm-Botschaft aufmerksam macht. Die Tätigkeit von Haus zu Haus ist nur ein kleiner Teil der Pflicht. Auch der sogenannte Straßendienst und das informelle Zeugnisgeben, die Rückbesuchs- und Heimbibelstudien-Tätigkeit und das „gewinnen ohne Worte“ sind weitere, gut trainierte Praktiken der Werbung. Jedes neu gefischte Opfer ist ein geldwerter Vorteil für die Wachtturm-Organisation. Der kostenlose Einsatz für die Werbung und die freiwilligen Arbeitsleistungen, sowie die freiwilligen Spenden summieren sich.

Frage: Haben Zeugen Jehovas ein kirchliches Oberhaupt?

Sie behaupten, ihr Haupt sei Christus und dieser bedient sich eines treuen und verständigen Sklaven als Mitteilungskanal. Dadurch gibt sich die Leitende Körperschaft – ein Gremium von derzeit 8 Personen, mit Sitz in Warwick USA – die Autorität, die sie benötigt um behaupten zu können, alle Anweisungen die sie geben seien direkt von Gott und Christus, ihrem Haupt, übermittelt durch den Heiligen Geist. Niemand kann dieser Darstellung ungestraft widersprechen.

Frage: An wen geht das Geld, das Zeugen Jehovas abgeben müssen?

Alles, was von Jehovas Zeugen an Spenden und geldwerten Vorteilen freiwillig geleistet wird, geht an die Zentrale in Amerika. Zunächst werden die vor Ort entstehenden Kosten abgezogen, Geld wird an die Zweigbüros weitergeleitet und diese übertragen es an das Hauptbüro. Die Immobilien in Deutschland wurden nach der Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechtes an die Religionsgemeinschaft übertragen. Somit gehören auch diese zum Vermögen der Muttergesellschaft in Amerika.

Frage: Haben Sie heute noch Kontakt zu der Sekte?

Nein. Alle früheren sozialen Kontakte sind abgebrochen worden. Das betrifft auch meine Familienangehörigen, die noch zu den Zeugen Jehovas gehören. Meine Mutter, mein Bruder, meine Schwestern, Nichten und Neffen.

Frage: Wie rechtfertigen es die Zeugen Jehovas, dass sie ihre Mitglieder so stark isolieren und einschränken?

Alles, was durch die Leitung angeordnet wird, bekommt mit einem entsprechenden Bibelvers Autorität. In diesem Fall ist der Haupttext: „Die Freundschaft mit der Welt ist Feindschaft mit Gott.“ Eines der Merkmale für Sekten ist das schwarz/weiß Denken. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten: gut/böse. Folglich haben nur wir allein die Wahrheit und den Segen Gottes und alles andere ist unter der Macht des Bösen. Es gehört demnach zum bösen System Satan des Teufels. Es ist für die Vernichtung bestimmt und von den guten Zeugen Jehovas wie die Pest zu meiden.

Frage: Wie hat sich ihre Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas bei Ihnen privat zu Hause im familiären Umfeld gezeigt?

Darüber habe ich Bücher geschrieben. Es gibt keinen Bereich im Leben eines Zeugen Jehovas, der nicht mit Regeln und Vorschriften belastet ist. Es wird alles geregelt: Essen mit Blutbestandteilen, unschickliche Kleidung, unchristliche Freizeitgestaltung, nicht angebrachte Hobbys und Sport, falsche Arbeit und Arbeitgeber, bedenkliche Freundschaften, richtiges Sexualverhalten, weltliche Feiertage – einfach alles. Bei jeder Tätigkeit lief in meinem Kopf ein Abgleich ab: Welchen Rat gibt der Wachtturm, welcher Bibeltext passt zu dieser Situation, was ist in den 2000 Leserfragen dazu zu finden? Es wird nichts ausgelassen. Die „Ratschläge“ des treuen und verständigen Sklaven machen auch vor der Schlafzimmertüre eines Ehepaares nicht halt.

Frage: Wie radikal ist die Umsetzung und Gestaltung des Alltags der Zeugen Jehovas (auch durch die „Obrigkeit“)?

Der Alltag der Zeugen Jehovas sollte mit einem strengen Zeitplan geregelt sein. Seinen Tag sollte er mit der Betrachtung des sogenannten „Tagestextes“ beginnen. Er sollte ein tägliches Bibelleseprogramm einhalten. Dafür kann er sich an das vorgedruckte Programm halten. Er hat die Aufgabe, alle Schriften der Wachtturm-Gesellschaft zu lesen und zu „studieren“ – wie das im internen Sprachgebrauch genannt wird. Zu dem Programm gehört es ebenfalls, sich auf alle Zusammenkünfte vorzubereiten, zugeteilte Aufgaben für die Leben-und-Dienst-Zusammenkunft auszuarbeiten und zu proben, er muss Zeit einräumen für den Predigtdienst und das persönliche und Familien-Bibelstudium, in allen Zusammenkünften wird seine Anwesenheit erwartet und zusätzlich die Beteiligung an freiwilligen Arbeiten in Verbindung mit der Pflege und Instandhaltung der Immobilie sowie soziale Dienste wie die Betreuung betagter Zeugen Jehovas und Fahrdienst. Da kommen locker zusätzlich zu den Anforderungen für den beruflichen Zeiteinsatz und die Haushaltspflichten mehr als 20 Stunden Einsatz in der Woche zusammen. Das sind die Vorgaben. Ich behaupte mal, dass es eigentlich so gut wie keinem Menschen gelingt, das alles immer vollständig einzuhalten. Aber dann beginnt das Dilemma. Die Doktrin besagt, dass unser Überleben davon abhängt, wie sorgfältig und gewissenhaft man den Rat des treuen und Verständigen Sklaven befolgt. So gesehen fühlt sich jeder „Rat“ wie ein Befehl an. Es wird suggeriert, dass man nur in dieser Weise seine Liebe zu Gott und den Menschen beweisen kann. Wer es also nicht schafft, fühlt sich als Versager. Er fühlt sich unter permanentem Leistungsdruck. Der Disstress bewirkt Erschöpfung, Depression, extreme Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Die psychosomatischen Beschwerden werden leider nicht auf diese permanente Überforderung zurückgeführt. Man fühlt sich schuldig und wendet sich verzweifelt an die Ältesten, die angeblich mit Rat und Hilfe zur Verfügung stehen. Sie „ermuntern“ zu mehr Gebet, mehr persönlichem Studium, mehr Predigtdienst – was zu mehr Freude, mehr Zufriedenheit und damit zu einem glücklichen Leben führen würde. Ich habe es ausprobiert. Ich habe sogar begonnen, die Bibel mit der Hand abzuschreiben in der Hoffnung, mein Glaube würde dadurch gestärkt und die Freude käme in mein Leben zurück. Es hat nicht funktioniert. Ich war schließlich physisch und psychisch am Nullpunkt.

Frage: Was genau war der Grund, warum Sie austreten mussten?

Die Lehre der Zeugen Jehovas ist geprägt von permanenten Veränderungen und Korrekturen. Die Vorhersagen über das Ende des weltlichen Systems der Dinge wurden mehrfach geändert. Die Bedeutung von biblischen Aussagen wie zum Beispiel zu der „Generation“, die das Ende erleben würde oder über die Bedeutung der „Obrigkeitlichen Gewalten“ die einmal als Jehova Gott ein andermal als die weltlichen Herrscher definiert wurden. Immer sollten wir glauben, dass diese Änderungen das „hellere Licht“ seien, das der Heilige Geist durch seinen „Sklaven“ ausgeteilt hat. Als ich Zweifel an dieser Definition äußerte, weil mir nicht plausibel schien, dass sich der Heilige Geist irrt oder absichtlich teilweise völlig gegenteilige Lehren austeilt, wurde mir „Abtrünnigkeit“ vorgeworfen. Kritik an der Lehre des „Sklaven“ wird innerhalb der Reihen der Zeugen Jehovas nicht zugelassen. Es wurde verfügt, dass sich ein Rechtskomitee der Angelegenheit annehmen muss.

Frage: Wie wurde Ihnen mitgeteilt, dass Sie „gehen müssen“?

Das Rechtskomitee tagte gemäß der innerorganisatorichen Regelung, die der Autonomie der Religionsgemeinschaften zugebilligt wird. Es entschied, dass mein Mann und ich der „Abtrünnigkeit“ schuldig sind und uns die Gemeinschaft zu entziehen sei. Die Entscheidung wurde uns von zwei Ältesten mündlich überbracht. Sie wurde auch in der Versammlung bekannt gegeben und damit war besiegelt, dass niemand mehr mit uns Kontakt haben durfte.

Frage: Würden Sie, wenn Sie heute wieder gefragt werden würden, wieder bei den Zeugen Jehovas mitmachen?

Ganz entschieden NEIN. Nie mehr und ich werde auch solange ich die Kraft dazu habe, davor warnen, den Verlockungen des destruktiven Kultes nachzugeben.

Frage: Waren Sie trotz Ihrer Zweifel enttäuscht, als Sie „rausgeschmissen“ wurden?

Dass ich nicht mehr für diesen Vertriebskonzern arbeiten muss, hat mich nicht enttäuscht. Aber die Erkenntnis, dass ich mich 60 Jahre von ihnen täuschen und ausbeuten ließ, hat mich tief traurig gemacht. Das Gefühl, ein ganzes Menschenleben quasi in die Tonne treten zu müssen, war kaum auszuhalten. Außerdem hatte ich ja keinerlei soziale Kontakte außerhalb der Zeugen-Gemeinschaft. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass die Menschen, vor denen ich immer gewarnt wurde, diejenigen waren, welche Mitgefühl zeigten. Sie waren vorbehaltlos hilfsbereit. Manche dieser Begegnungen und Erfahrungen hat mich zu Tränen gerührt und ich bin dafür unendlich dankbar.

Frage: Ist es einfach, aus der Sekte wieder auszutreten oder bekommt man dann Probleme (zum Beispiel mit anderen Mitgliedern)?

Im Prinzip ist es ganz einfach auszutreten oder einfach nicht mehr hinzugehen. Doch wenn man diesen Schritt tut, hat das zur Folge, dass selbst Familienangehörige den Kontakt abbrechen. Es kann viele Gründe geben, die Isolation vermeiden zu wollen. Gerade für Jugendliche, die noch nicht auf eigenen Füßen stehen, ist es oft sehr schwierig. Sie stehen unter extremem psychischem Druck. Manche versuchen es mit einem Doppelleben. Aber die permanente Notwendigkeit lügen zu müssen und die Angst dabei erwischt zu werden, belastet das Leben. Aussteiger wie Misha Annouk und andere haben dazu ihre Erfahrungen in ihren Büchern veröffentlicht. Ich beschreibe diese Schwierigkeiten in dem Buch Saras Mut.

Reaktionen zu diesem Beitrag

  1. Petra Stein sagt:

    ???

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  2. Sebastian sagt:

    Tolles Interview, Danke!

    Antworten
  3. Alex sagt:

    Dem Hinweis, dass es viele mit einem Doppelleben zu kompensieren versuchen, kann ich nur vollends zustimmen, liebe Barbara! Ohne dieses Doppelleben hätte ich es nicht geschafft, 26 Jahre darin zu bleiben. Und bei mir war es auch eine Blutgeschichte am eigenen Leib, der mir die Augen öffnete. Auch viel zu spät an für sich.

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  4. Stephan sagt:

    Der Unterschied zu anderes Sekten besteht, nebenbei bemerkt, auch in der Führung als tuvS. Meistens gibt es ja nur einen Führer aber bei den Zeugen besteht dieser Guru aus 8 oder 9 männlichen Personen. Da glaubt man als aktiver Zeuge dann schon mal eher das die als Gruppe von Gott geleitet sein müssten. Schließlich schauen die sich zusätzlich noch gegenseitig auf die Finger. Das allerdings scheint sogar ein erfolgreicher Schachzug zu sein. Denn so hält jeder seinen Mund und bleibt Linientreu.

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  5. Katrin sagt:

    Hallo Barbara, ja, ich kann mich nur anschließen. Du hast sehr gut all diese Mißstände innerhalb der ZJ, die durch ihre Führung hervorgebracht, indoktriniert und geschürt werden, beschrieben. Sehr gut und vollkommen sachlich.

    Besonders Deine Ausführungen zum Verbot von Bluttransfusionen fand ich sehr gut. Man denke nur an die widerliche Broschüre der WTG in der tote Jugendliche hervorgehoben und als eherne Beispiele dargestellt wurden die ihr junges Leben verloren weil sie so treu zu diesem Verbot, welches der TuvS den ZJ aufbürdet, standen und lieber starben als einer Bluttransfusion zuzustimmen.

    Und das ist auch schon wieder ein ganzes Stück her als diese Broschüre herausgegeben wurde. Man versprach diesen Jugendlichen und allen die ihnen treu folgen würden, ja immer eine baldige Auferstehung für ihren treuen Kamikaze-Dienst. Und was ist daraus geworden? Diese jungen Leute sind schon Jahre bzw. Jahrzehnte tot, verloren ihr junges Leben für NICHTS! Sie starben für die Arroganz einer ignoranten Herrscher-Clique die sich daran ergötzt über Leben und Tod zu entscheiden.

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  6. JW Help: Wohin ausstiegswillige und ehemalige „Zeugen Jehovas“ sich in Augsburg wenden können – Casus Factus sagt:

    […] Interviews mit Barbara Kohout gibt es zum Beispiel im Blog des ehemaligen „Zeugen Jehovas“ Oliver Wolschke und bei Planet […]

  7. Petra Schmidtmann sagt:

    Ganz tolles realistisches Interview danke liebe Babera

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  8. Niels sagt:

    Hallo ++ Hier wie auch bei anderen Artikeln fehlt mir ein Veröffentlichungsdatum. Es würde mir helfen, Aussagen im Kontext aktueller Glaubenssätze von JZ besser zuordnen zu können. ++ Vielen Dank

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    1. Oliver Wolschke sagt:

      Hi Niels,

      in der Regel sind die Quellenangaben – speziell von Jehovas Zeugen – verlinkt. Meist ist auch ein Datum zur Quelle angegeben. Wie hier im Text „Wachtturm, 15. Juni 1985“. Dies bedeutet nicht, dass die Lehrmeinung heute eine andere ist. Dies kann aber in deren Online-Bibliothek (wol.jw.org) überprüft werden. Ein Datum an unseren Artikeln gibt es nicht, da die Artikel in der Regel einer ständigen Überprüfung unterlegen sind, und regelmäßig aktualisiert werden.

      Viele Grüße,
      Oli

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