Trennung durch Kommunikation – Zeugen Jehovas und die „reine Sprache“

„Ach, sie sind Zeuge. Irgendetwas ist anders an ihnen, das war mir gleich aufgefallen.“ Solche Sätze werden gern auf der Bühne zitiert, um zu zeigen, dass Zeugen Jehovas anders sind – und wenn man ehrlich sein will, könnte man auch „besser“ statt anders als Inhalt der Aussage nennen.

Wortschatz und Sprache

Neben der Funktion der Trigger kann die Sprache in Verbindung mit dem Wortschatz auch als identitätsstiftendes Merkmal fungieren. Sie kann, wenn sie richtig genutzt wird, eine klar abgrenzende Funktion haben, die ein Zugehörigkeitsgefühl schafft, oder eine unsichtbare Grenze errichtet. Kommt jemand dieser Grenze nahe, fühlt sich der, welcher diese Sprache versteht, unwohl oder derjenige, der nicht Teil dieser Gruppe ist, empfindet den Gegenüber als merkwürdig, anders oder wissend. Natürlich geht es hier nicht um Unterschiede, die auffällig wie ein starker Akzent oder eine Fremdsprache wirken. Jedoch umso geschlossener eine Gruppe nach außen hin agiert, umso stärker beginnt auch die kommunikative Abgrenzung. Neben Themen, welche trennend wirken besteht auch kommunikativ eine Herausforderung, diese zu vermitteln.

Zeugen benutzen eine eigene Sprache, auch wenn es verwunderlich klingt. Die „reine Sprache“, ist ein Begriff der darauf anspielt. Unterhalten sich Zeugen untereinander, so könnten Aussagen fallen wie: „Es ist so paradiesisch hier.“, „Sie ist so demütig.“, „Er ist so eifrig.“ Je nach dem Sozialkreis in dem man verkehrt, wird man feststellen, dass diese Aussagen zum Teil hingenommen und verstanden werden, jedoch absolut atypisch sind. Unter Zeugen ist dies relativ normal, die Sätze sind bekannt (und sind nur Beispiele).

Mir fiel dies gelegentlich auf, ich betrachtete es jedoch als relativ normal – ich hatte ja die „Wahrheit“ und sprach die „reine Sprache“. Untersucht man jedoch diese Besonderheit etwas näher, so kann man sehr schnell einen Teil der Gründe dahinter sehen: die Bibel ist alt, viele der betrachteten Bücher sind alt, die Schreiber der WTG sind sicher nicht mehr die Jüngsten, die Übersetzungen der englischen Veröffentlichung verzerren die Art und Weise, wie man normal schreibt. Jedoch sind viele dieser Dinge korrigierbar, wenn man denn will. Jedoch, bildet dies einen Unterschied zu anderen, und warum sollte man dies nicht wollen.

Offensive Kommunikation

Vielfach sieht man den kommunikativen Teil den man gelernt hat, nach dem Ausstieg auf der „Haben-Seite“, auch ich. Jedoch muss man dies relativieren. Sicher, man lernte offen zu reden, man überwand Ängste und Scham vor anderen zu reden oder diese anzusprechen. Doch man lernte dies nur in einer sehr defensiven Struktur.

Vielfach sieht man in Videos von Aussteigern, wie Zeugen die am Trolley stehen, sehr schnell in eine Defensivhaltung wechseln, sobald sie intensiv befragt werden. Neben den Triggern die greifen, ist auch die Kommunikation in dieser Hinsicht antrainiert. Kritisches Hinterfragen wird durch „Ehrfurcht“ (wieder ein tolles, unübliches Wort) vor Ältesten usw. ersetzt. Das Miteinander wird auf „erbauende, ermunternde, positive“ Themen beschränkt. Schritt für Schritt wird die Fähigkeit kritisch zu Denken abtrainiert, und wo es keine Kritik gibt, gibt es keine Diskussion. Natürlich dient dies der Sache als solches, da die Lehren oft sehr fragil sind und einer Prüfung nicht standhalten.

Jedoch verlernt man dadurch auch eine wichtige Form der Kommunikation: die offensive Diskussion, welche für einen gesunden Skeptizismus notwendig ist. Auch hier kann man bei seinem Ausstieg vielleicht irgendwann zum Ergebnis kommen, dass man Nachholbedarf hat. „Warum verliere ich Diskussionen obwohl meine Argumente besser waren?“ – diese Frage kann Teil des Problems sein. Dazu einige Erlebnisse:

Unser Saal bekam neue Technik. Einer fiel negativ auf: ich. Warum? Ich kritisierte vor versammelter Mannschaft die vorgeschlagene Technik. Natürlich wurde ich ignoriert und es wurde beschafft, wie es vorgeschlagen wurde. Das Ergebnis war wie erwartet: die Anschaffung war nicht geeignet und es wurde später getauscht. Problem an dieser Stelle war: mir fehlte der Rang und wer wagt es schon, dies zu diskutieren, wenn ein „reifer Bruder“ sagt das es funktioniert?

Auch ein Ereignis, welches während meines „Erwachens“ stattfand, war für mich sehr erschreckend. Bei der Zusammenkunft mit den Ältesten und Dienstamtgehilfen wurde eines meiner Vorrechte für die Versammlung detailbezogen kritisiert. Eigentlich bat ich den Kreisdiener, dieses Gespräch an einem geeigneteren Ort zu führen und nicht vor allen Ältesten. Es ging dabei nicht um mich. Ich arbeitete in diesem Bereich und hatte auch einen entsprechenden Abschluss. Geraume Zeit hatte ich darauf verwendet, die übergebenen Unterlagen von meinem Vorgänger rechtskonform aufzuarbeiten, ich stand im Stoff. Egal wie, nun stand ich da und diskutierte. Es wurde immer ruhiger neben mir. Ich verließ den Raum amüsiert, ein Ältester an der Tür sprach mich noch an und sagte: „Du Sebastian, bei der Unterhaltung hat man gemerkt, dass du im Stoff stehst.“

Und noch ein drittes Beispiel: ein junger Bruder, sehr schnell Ältester durch gewisse Umstände geworden, ging zur „Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung“. Da wir sehr gut befreundet waren, kannte ich ihn. Nach dieser Woche war er verändert. Nicht schlauer oder irgendwas, aber kommunikativ verändert.

Warum erzähle ich dies? Beruflich habe ich verschiedene Tätigkeiten ausgeübt, welche immer den Fokus auf Kommunikation und Deeskalation hatten. Intern wurde fachlich gelegentlich hart diskutiert. Extern musste ich vermitteln und erläutern, dass ich Recht hatte – egal wie hart diskutiert wird. Ganz konnte ich dies dann auch bei den Zeugen nicht unterdrücken.

Mit einigen Leuten definierten wir mal einen Personentyp: „Versicherungsvertreter“, sicher vergleichbar mit dem Klischee des Gebrauchtwagenverkäufers. Genau dazu wurden und werden
Zeugen ausgebildet. Nicht zu diskussionsfähigen Menschen, sondern zu Vertretern. Gerade Personen mit einer Schulung durch die WTG weisen diese Vertretermentalität auf. Ihr Produkt, die „Wahrheit“, musste verkauft und gelebt werden. Ohne Diskussion, oft mit dem krampfhaften, erstarrten Lächeln.

Fachbegriffe

Etwas, was sicher jeder von uns kennt. Zeugen erklären „Interessierten“ oft, gerade wenn sie neu in die Versammlung kommen, fortlaufend Fachbegriffe: 144.000, Leitende Körperschaft, Pfahltod, himmlische/irdische Hoffnung, usw.

Man kennt dies aus beruflichen Fachbereichen. Ärzte, Handwerker, Behördenmitarbeiter – es bildet sich ein Universum an Fachbegriffen, welches Unterhaltungen möglich und effizient macht. Im Kontext der Bibel trennt man sich dadurch von anderen Gläubigen. Einige räumen ein, die Zeugen hätten Bibelwissen. Doch eigentlich sind sie eher Versicherungsvertreter, welche gelernt haben, durch Anwendung von Fachbegriffen, die sie selbst erfunden oder gedeutet haben, intelligent zu wirken. Sie selbst bekommen dadurch, dass andere nicht auf Anhieb verstehen was es bedeutet, das Gefühl zur Kaste der „Wissenden“ zu gehören. Anmaßende Buchtitel wie „Was lehrt die Bibel wirklich“ zeigen diesen Anspruch, welchen jeder Einzelne hat. Einleitungen, in denen man sich als „Bibellehrer“ bezeichnet – all dies, unterstützt durch vielfältige Bestärkung, zur Kaste der „Wissenden“ zu gehören.

Dies sind nur drei Punkte und ein Fachmann wird sicher noch vieles hinzufügen können. Jedoch reichen diese Punkte, um „anders“ zu wirken. Die Israeliten hatten Fransen, Zeugen grenzen sich schon durch ihre Haltung zu Feiertagen ab. Aber selbst, wenn sie nicht mit diesem Thema konfrontiert werden, so können ganz normale Sozialkontakte erschwert werden. Neben Triggern und anderen Dingen, haben sie – besonders wenn sie aktive Mitglieder waren – eine andere Kommunikation und einen anderen Wortschatz. Abseits des Predigens können Diskussionen schwerfallen, sie sehr schnell emotional aufwühlen oder verletzen – da sie intern Kritik und eine offensive Gesprächsführung nicht gewöhnt sind. Als Teil einer diskutierenden Gruppe können sie sich schnell ausgegrenzt fühlen, da ihnen „Streit“ zuwider ist und sie die Trennlinie zwischen einer heftigen Diskussion und Streit nicht kennen. Dazu kann dann auch die neutrale Haltung beitragen, welche gelegentlich eine „Weltfremdheit“ inkludiert.

In diesem Strudel folgt ein logischer Schluss: Die Welt ist böse! Nur meine „Brüder“ verstehen mich. Natürlich ist dieser Einfluss schwach und nur eine kleine Komponente. Jedoch sollte man sich mit kritischen Denken, Kommunikation und Skeptizismus beschäftigen, falls man denkt, dort Defizite zu haben. Es könnte der Charakter sein, oder antrainiertes Verhalten. Die Antwort kann und muss man selbst finden.

Reaktionen zu diesem Beitrag

  1. Barbara Kohout sagt:

    Sehr zutreffende Gedanken. Diese Art der „Kommunikation“ hat noch einen weiteren Effekt, den ich als Frau extrem intensiv verinnerlicht hatte. Der Komplex, dass ich selbst nicht kompetent bin. Meine Gefühle, Gedanken, Zweifel sind nicht relevant. Die „Experten“ sind immer die Anderen. Davon frei zu werden ist ein harter Weg der Selbsterkenntnis.
    Ich möchte das an einem Beispiel erklären.
    Gestern wollte ich einen Fahrschein kaufen. Am Automaten – aber nicht von Augsburg, sondern von Friedberg nach Dasing. Da ich das aber in Augsburg erledigen musste und auf keinen Fall etwas falsch machen wollte, ging ich sicherheitshalber an den Schalter zum Kundenservice und bat um eine Fahrkarte von Friedberg nach Dasing. Ich wunderte mich über den hohen Preis und meckerte, dass die Bahn für eine Fahrtstrecke von 5 Minuten 4,40 Euro kassiert. Die Dame fühlte sich persönlich angegriffen und erklärte mir, dass sogar schon gerichtlich geklärt sei, dass sie das darf.
    Nachdem ich im Zug meinen Fahrschein nochmal ärgerlich kontrollierte, stellte ich fest, dass er für die Strecke Augsburg/Dasing ausgestellt ist.
    Warum habe ich nicht gewagt, am Schalter nochmal um eine Überprüfung zu bitten? Ich hätte meine Monatskarte mit der Gültigkeit bis Friedberg vorweisen können und die Dame hätte verstanden, warum ich erst ab Friedberg einen Fahrschein benötige.
    Ich bin meinem Komplex erlegen, dass ich nicht so klug sein kann wie die „Fachfrau“. … „Eine Frau hat in der Versammlung zu schweigen…“.
    Dieser Fehler hätte so leicht verhindert werden können, wenn ich meinem Gefühl vertraut hätte und um nochmalige Überprüfung gebeten hätte. …
    Ich arbeite daran, die Konditionierungen aus der Vergangenheit, die mir mit einer ganz bestimmten Sprache, Redewendung, Phraseologie vermittelt wurden, nach und nach zu entlarven und zu löschen.
    Aus Deinem Artikel kann man eine ganze Reihe weiterer Fußangeln extrahieren. Gut, dass Du sie ansprichst.

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  2. Ember Hugo Fhell sagt:

    Vielen Danke für diese Analyse.

    Tabuworte und die enge Auslegung von Begriffen, wie auch „Totschlagbegriffe“ findet man oft bei Moralisierern, etwa auch in politischen oder soziologischen Strömungen. Das ist ein Indikator für die Totalität eines Denk- und Empfindungssystems.

    Es ist zum einen völlig natürlich, dass sich in einer soziologischen Struktur ein eigener Sprachcode ausbildet.
    Bei den JZ gibt es, neben dem „intern-offiziellen“ für die Bühnen-, Predigt- und Besprechungssituationen auch noch einen „privaten“.
    Da wird dann schon mal über „Bruder 200%“ gelästert (jemand, der nicht auf den „Privatmodus“ umschalten kann), man kennt den „Pionierschritt“ (Pioniere sind JZ, die sich zu besonders vielen Missionsstunden verpflichtet haben, sie gehen, so unkt man, besonders langsam von Haus zu Haus), kennt auch die „Schwester Älteste“ (Ehefrau eines Ältesten, der die Position ihres Mannes sehr wichtig ist und ihn mehr oder weniger in der Hand hat) oder legt im Predigtdienst schon mal „das Liederbuch auf den Schornstein“ einer Villa (JZ zeigen mit ihrem Liederbuch an, wenn sie einen Platz im Königreichssaal belegt haben – hier ironisch übertragen auf: „Die Villa schnapp ich mir nach Harmagedon, wenn alle vernichtet sind.“). Man spricht von „Gipseiern“ (Personen, die sich lange bepredigen lassen und die Sozialkontakte der JZ mitnutzen (Stichwort: Lovebombing), ohne „Fortschritte“ (ein offizielles Zeugenwort) zu machen); vom „Kaltbeter“ (Brüder, die regelmäßig sich in ultralangen Tischgebeten ergehen) oder vom „Kreisel“ (=Kreisaufseher, eine Art Bischof). Natürlich nicht offiziell, das wäre respektlos; es erfodert einen feinen Sinn für die soziologischen Strukturen, wann und ggü. wem die private Sprache angewendet werden darf. Bei Kritik lässt sich einfach auf die „intern-offizielle“ Sprache umschalten, um sie im Keim zu ersticken.

    Ziemlich jede Organisation kennt so einen „internen Code“. Ähnlich dem russischem Mat dient er zur Festigung interner Sozialstrukturen und Ränge.

    Dann gibt es noch die „extern-offizielle“ Sprache gegenüber den Außenstehenden. Diese ist vor allen von Doppeldeutungen bestimmt. Man spricht vom „Respekt gegenüber anderen Religionen“ und meint damit lediglich, dass man deren Zerstörung Jehova überlässt oder von „freiwilligen Entscheidungen“ – und verschweigt dabei, dass man im anderen Falle seine Familie verlöre. Und wenn davon die Rede ist, die Kinder zu „vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft“ zu erziehen, meint man damit lediglich, dass ein guter JZ nicht mordet oder stiehlt; keineswegs gesellschaftliches Engagement. Während in der internen Sprache „kritisches Denken“ als Sünde gilt, fordert man einen Bepredigten dazu jedoch auf, seinen Glauben betreffend. Man vergleiche dazu nur einmal die Materialien, die JZ für Lehrer und Schulen mit solchen, die sie für Kinder heraus geben.

    Intern nennen die Zeugen diesen Außensprech nach einem Gleichnis Jesu „listig wie die Schlangen, arglos wie die Tauben“ zu sein. Diesen gibt es auch in vielen Firmen (Beispiel: Versicherungsvertreter. Intern geht es nur um Verkaufszahlen und Provisionspunkte als Geschäftsanreiz; extern niemals, sondern nur um die angeblichen Kundenvorteile, obwohl sich der Vertriebler überhaupt nicht dafür interessiert.). Auch Politiker verwenden oft diese Verschleierungssprache.
    Das ist stets ein Indikator für Verschlagenheit.

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  3. Dindas, Uwe sagt:

    Erste Makkabäer zweites Kapitel Verse eins.

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  4. Roberto da Silva sagt:

    Oh man…die schlimmen Zeugen…. Aber wenn ich so darüber kritisch und diskussionsfähig nachsinne, komme ich unweigerlich zu der Erkenntnis, dass es wohl auf jede Religion zutrifft……Und wenn ich sogar noch tiefer einsteige, kann man die Argumente sogar für den Lehrinhalt zur Hochschulreife anwenden…..

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